Friday, October 20, 2006
Wednesday, October 18, 2006
Friday, October 06, 2006
São Paulo - Reichtum, Elend, Obdachlose
von Klaus Hart
Bei Brasilien denken die meisten Deutschen immer zuerst an Rio de Janeiros kleine Schokoladenseite, den Zuckerhut, den Copacabanastrand, Samba und Karneval. Dabei ist das 430 Kilometer entfernte subtropische Sao Paulo zwar keineswegs schöner, aber viel interessanter und nicht nur Brasiliens, sondern ganz Lateinamerikas Kultur-und Gastronomiehauptstadt. Hier dirigiert John Neschling das beste Sinfonieorchester Lateinamerikas, hier leben die populärsten Musiker des Tropenlandes – das Sertaneja-Duo Zezè di Camargo und Luciano. Jährlich werden etwa tausend Theaterstücke inszeniert. Nicht zufällig bildet das kosmopolitische Sao Paulo vor Rio den wichtigsten touristischen Anziehungspunkt des Tropenlandes. Viel mehr Deutsche steuern Sao Paulo an, nicht Rio.
Die nach Tokio und Mexico-City drittgrößte Stadt der Welt ist zudem Lateinamerikas Industriemetropole, zählt an die tausend deutsche Unternehmen und erwirtschaftet ein höheres Bruttosozialprodukt als ganz Argentinien. Extreme Sozialkontrasten fallen indessen beinahe überall ins Auge – auch die über zweitausend Slums sind nicht zu übersehen. Sao Paulo zählte einmal zu den schönsten Städten des Erdballs – hemmungslose Geldgier, kollektive Unvernunft und provozierender Individualismus haben sie in eine der häßlichsten verwandelt. Sao Paulo ist heute auch Symbol lateinamerikanischen Sozialdarwinismus. Manche verdrängen lieber, schauen nicht hin – doch die Situation der marginalisierten Paulistanos, darunter der Obdachlosen, schockiert. „Unser Land ist besudelt von Korruption, Gewalt und Lügen“, ruft Padre Julio Lancelotti vor der Kathedrale von Sao Paulo aus und ärgert damit manche Vorübergehenden. Übertreibt der Kirchenmann nicht unverschämt? Aus dem Präsidentenpalast in Brasilia kommen schließlich permanent positive Nachrichten über Wirtschaftswachstum, Rekordausfuhren und sozialen Fortschritt, was auch in Europa Beifall findet. Lange schlug der tropischen Fußballnation nicht mehr so viel Sympathie entgegen. Doch Lancelotti zählt zu Brasiliens führenden Menschenrechtsaktivisten, kordiniert in Sao Paulo das weltweit einzige Vikariat für Obdachlose und sieht die riesigen, entsetzlichen Slums an den Peripherien der Millionenstädte auch unter der Lula-Regierung immer rascher wachsen. Vor der Kathedrale prangert er mit Gleichgesinnten an, daß ein im August 2004 an Obdachlosen verübtes Massaker immer noch nicht aufgeklärt ist, tatverdächtige Militärpolizisten unbehelligt bleiben. Acht Männer und Frauen wurden damals mit Eisenstangen totgeschlagen, weiteren sechs wurde der Schädel zertrümmert – doch sie überlebten. „Das Blutbad gehört zur Schande Brasiliens“, so Lancelotti, „selbst Sklavenhalterkultur und Folter existieren weiter.“ Der Padre erhält Morddrohungen, wurde mehrfach von Unbekannten attackiert, man setzte sogar einen bezahlten Killer auf ihn an. „Jetzt fürchten wir mehr denn je um sein Leben“, sagt die Deutsche Hedwig Knist, die seit acht Jahren in Sao Paulo die katholische Obdachlosengemeinde nahe dem Luz-Bahnhof leitet. Wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit verlieren immer mehr Familien ihre Bleibe, kampieren direkt an der Gemeindekirche, unter den vielen Hochstraßen Sao Paulos – Szenen wie in Haiti, Kalkutta oder Lagos. Den Bessergestellten sind die Verelendeten vor allem in der City ein Dorn im Auge. An Lateinamerikas Leitbörse, protzigen Bankenpalästen, Oper und Pinakothek, Shopping Centers und Nobelrestaurants ärgern sich High Society und Schickeria über die zerlumpten, verzweifelten, teils übelriechenden und psychisch gestörten Gestalten, wollen von denen nicht angebettelt werden. Die vom sozialdemokratischen Bürgermeister Josè Serra geleitete Stadtverwaltung will deshalb das Zentrum jetzt von ihnen säubern. „Die sollen alle weg, an die überfüllte Peripherie, werden teilweise rausgeprügelt“, so Hedwig Knist, „immer mehr Obdachlose und Straßenkinder werden mißhandelt.“ Natürlich wenden sich die Erzdiözese und ihre Obdachlosenseelsorge gegen eine solche Vertreibungspolitik, pochen auf die Menschenrechte der „Moradores da Rua“(Straßenbewohner). „Deshalb werden wir von den Autoritäten gehaßt.“ Die Gemeindereferentin aus der Diözese Mainz macht interessante Rechnungen auf: Allein in der City stehen vierzigtausend Wohnungen leer – mehr, als es Obdachlose in Sao Paulo gibt. Würde jede Firma der lateinamerikanischen Wirtschaftslokomotive einem einzigen Obdachlosen Arbeit geben, wäre das Problem aus der Welt. Was auch Hedwig Knist besonders provoziert: Sao Paulo ist Lateinamerikas reichste Stadt, Brasilien immerhin die vierzehnte Wirtschaftsnation - genügend Geld für Soziales ist de facto vorhanden. Spenden aus Deutschland wären gar nicht nötig. Doch im neoliberal regierten Brasilien wollen die Betuchten nicht abgeben, ist eine gerechtere Einkommensverteilung nicht in Sicht. Ohne Spenden kirchlicher deutscher Hilfswerke wie Adveniat wäre auch wirkungsvolle Obdachlosenbetreuung nicht möglich. „Hedwig hat mir Auswege gezeigt, mich in Momenten der Schwäche und Unsicherheit bestärkt, bis ich es geschafft habe“, sagt Eliana de Santana. „Mit meiner kleinen Tochter lebte ich im Dreck – doch dank Hedwig und ihren Gemeindeprojekten konnte ich öffentliche Gesundheitsbetreuerin werden, habe jetzt eine winzige Wohnung.“ Sie kümmert sich in der City um kranke Obdachlose, erzwingt notfalls deren Behandlung in Kliniken. „Straßenbewohner werden diskriminiert - eine Frau hat man vor der Hospitalpforte sterben lassen!“ Hedwig Knist umarmt vorm Gottesdienst die über dreißigjährige Berenice. “Zehn Jahre hauste sie wie ein Tier zwischen Müll – jetzt macht sie Abendschule, arbeitet in der Gemeindewerkstatt, lebt in einem Wohnprojekt.Obdachlose in Deutschland – Obdachlose im riesigen Brasilien – überhaupt kein Vergleich. Jene wenigen, die in deutschen Fußgängerzonen, auf Straßen und Plätzen betteln, schlafen, herumhängen, sind gegenüber ihren brasilianischen Schicksalsgenossen geradezu in einer luxuriösen Situation. Niemand käme auf die Idee, an denen von Berlin, Frankfurt oder München Massaker zu verüben, sie lebendig zu verbrennen, gar beim Vorbeifahren aus dem Auto heraus zu erschießen. In Brasilien ist das alltäglich, Sandra Stalinski aus Aschaffenburg erlebt es als „Missionarin auf Zeit“ mit. „Von den Opfern in Sao Paulo habe ich einige gut gekannt, alles hilflose Menschen, die Schwächsten der Schwachen, gezielt ausgesucht. Ich bin deshalb psychisch richtig zusammengebrochen, habe stundenlang geweint. Die Tatorte sind ja immerhin mein Arbeitsbereich. Das Massaker, denke ich, wurde aus politischen Gründen kurz vor Kommunalwahlen inszeniert, um es politisch auszuschlachten.“ Denn Sandra Stalinski macht der ganze Medienrummel um den Fall stutzig, die gegenseitigen Anschuldigungen der Politiker. Soviel öffentliche Resonanz sei nicht normal, man hätte alles auch unter den Tisch kehren können.
„Ich bin kein Mensch, ich bin Müll“
Wie üblich, wenn es „Sem-Teto“, Obdachlose, trifft, die häufig von der autoritären, egozentrischen Gesellschaft Brasiliens wie Nicht-Menschen betrachtet werden. „Man setzt sie mit Müll gleich. Und das Schlimme ist: Die Obdachlosen sagen selber schon, ich bin kein Mensch, ich bin Müll.“ Um so nötiger ist soziale Betreuung, die „Missionaria“ Stalinski nicht etwa weit entfernt an der Slumperipherie, sondern sogar mitten in der modernen City, neben dem pompösen Gebäude der lateinamerikanischen Leitbörse und den Großbanken, unweit feiner Manager-Restaurants, leistet. Oder selbst auf den Stufen der Kathedrale, oft gleich unter Gruppen tief verzweifelter, teils stark betrunkener Obdachloser. Unter all den Menschenmassen quält diese, einsam, ausgestoßen, ausgeschlossen zu sein – um so dankbarer für Hilfe, ein tröstendes Wort, ein Gespräch.„Auf dem Platz davor sieht man alles – Überfälle, Streit und Tod.“ Denn die skandalösen Sozialkontraste Brasiliens liegen noch so offen wie zur Sklavenzeit: Manager in feinem Tuch, aufgeputzte Chefsekretärinnen kreuzen in Sao Paulos Innenstadt tagsüber alle paar Schritte Obdachlose, Bettler, Verkrüppelte, gar alte, zerlumpte schwarze Frauen, die sich ächzend vor hochbeladene Lastkarren spannen. Das Massaker geschah just in der trubeligen City – nur zu viele der Privilegierten haben sich an den Anblick jener etwa 16000 Straßenbewohner Sao Paulos, „Moradores da Rua“, schlichtweg gewöhnt, nehmen sie kaum noch wahr, unglaubliche Indifferenz dominiert. In Deutschland gäbe es nach solchen Untaten einen öffentlichen Aufschrei – hier stößt Sandra Stalinkski sogar während eines kleinen Protestmarsches auf offene Abweisung – ihre Flugblätter werden von nicht wenigen Schlipsträger aus Banken, Geschäftshäusern abgelehnt:“Nee, kannste behalten, interessiert mich nicht. Da ist mir die Galle hochgekommen – soviel Ignoranz!“ Obdachlosen, so sagen viele, „verschmutzen“ das Stadtbild, verrichten ihre Notdurft überall – auch wegen ihnen stinkt es in den brasilianischen Großstädten vielerorts barbarisch nach Urin und Menschenkot.Sandra Stalinski arbeitet vorwiegend in einem Nachtasyl für 120 Männer, wird zwangsläufig Expertin in hausgemachter brasilianischer Sozialproblematik, auch brasilianischer Religiosität. Denn überall stößt sie auf einen ihr völlig neuen Bezug zu Gott:“Die Brasilianer sind viel religiöser als wir Deutschen, leben den Glauben wesentlich emotionaler, feiern Gottesdienste viel gefühlvoller, mit Liedern und Gesten. Man tanzt dort sogar, was ich gleich gar nicht kannte. Auch die Obdachlosen sind religiös und sagen, daß es letztendlich in Gottes Hand liege, ob sie sich aus dieser Situation befreien können. Sie sind fatalistisch, passiv, finden sich mit ihrem Schicksal ab, meinen, daran nichts ändern zu können. Ihre Lage sei scheinbar Gottes Wille. Und so eine Haltung kritisiere, hinterfrage ich natürlich.“ Doch kaum Resonanz, wie die Missionarin verkraften muß. „Mit denen darüber zu reden, ist ganz schwierig, da habe ich eigentlich keine Chance.“ Sie beobachtet zudem, wie sogar direkt vor der Kathedrale tagtäglich zahlreiche Sektenprediger agieren, mit der Bibel in der Hand allen Ernstes wie wild herumspringen. Das einerseits so moderne Sao Paulo ist auch Zentrum archaischster Wunderheiler-und Exorzisten-Sekten, die man bestenfalls weit im Hinterland vermutet hätte. „Ich empfinde das schockierend, laufe in den Straßen an Hallen vorbei, wo gerade ein Sektenpriester schreit, über den Satan spricht. Manche Obdachlose erzählen von Sekten, haben einen sehr fundamentalistischen Glauben, nehmen die Bibel wortwörtlich. Bei ihnen hat jedes zweite Wort mit Gott zu tun. Auf der Straße, unter den Obdachlosen gibts alle möglichen Religionen, wahnsinnig viele Freikirchen. Wir sind daher in den Projekten von „Rede Rua“ ökumenisch, nicht nach einer bestimmten Religion ausgerichtet, halten keinen rein katholischen Gottesdienst, aber Gebetsstunden ab, feiern natürlich religiöse Feste wie Ostern und Weihnachten. Ganz besonders wichtig für die Bewohner der Straße.“ Die ganze zwiespältige, komplexe, widersprüchliche Obdachlosenproblematik wird von der Missionarin sachlich, illusionlos gesehen, ohne sozialromantische Scheuklappen. Da in Brasilien ein soziales Netz wie in mitteleuropäischen Ländern fehlt, geht der Absturz in die Obdachlosigkeit ganz rasch, oft von heute auf morgen. “Man verliert die Arbeit, dann ganz schnell auch die Wohnung – und wohin dann? Auf die Straße.“ Andere sind aus tausende Kilometer entfernten Regionen Brasiliens quasi nach Sao Paulo eingewandert, hofften in der Industriestadt auf einen Job, hörten wohl nichts von grassierender Rekordarbeitslosigkeit.
Machismus, Alkoholismus und harte Drogen
„Wenn Ehen auseinanderbrechen, gehen die Männer oft aus Wut und Trotz einfach weg, landen auf der Straße - fast nie die Frauen. Das hat viel mit dem lateinamerikanischen Machismus zu tun. Die Männer sind unheimlich stolz, sehr machistisch, sehen es nicht ein, etwa ihren Teller abzuwaschen, ihre Sachen zu säubern. Und bei Entlassung halten sie es einfach nicht aus, daß die Frau für den Lebensunterhalt der Familie sorgt – und flüchten einfach, greifen zur Flasche.“ Absurderweise ist simpler Zuckerrohrschnaps, Cachaca, in Brasilien billiger als Milch – was würde sich in Deutschland abspielen, wenn der Liter Wodka oder Korn weit weniger als einen Euro kostete? „Für die brasilianischen Männer ist es fast normal, Cachaça zu trinken und in einer schwierigen Situation in den Alkoholismus abzurutschen.“ Kokain, Crack kosten im Vergleich zu Deutschland ebenfalls nur Spottpreise, sind daher selbst für Slumbewohner erschwinglich. Schnaps, Rauschgift dienten zum Ruhigstellen von Problemgruppen, etwa Strafgefangenen, würden deshalb in die Knäste bewußt hineingelassen – sagen selbst katholische Pfarrer. „In unserem Nachtasyl sind 98 Prozent alkohol-oder drogenabhängig“, so Sandra Stalinski, „ein Problem, mit dem wir ganz viel zu kämpfen haben, das sie aber nicht thematisieren.“ Abends deshalb immer dasselbe Ritual: „Wenn die Leute unheimlich betrunken ankommen, würden sie in der Herberge Streit anfangen, gäbe es Konflikte. Also lassen wir sie erst vor der Tür warten, etwas nüchterner werden.“ Bei den Männern stößt sie teils auf tiefste Verwahrlosung, gar Verrohung – auf einen Teufelskreis, nur ganz schwer zu durchbrechen. Denn das Leben auf der Straße ist unbeschreiblich hart, auch grausam:“ Da kann man nicht zartbesaitet sein, da muß man auch zum Messer greifen und töten, um sein eigenes Leben zu schützen – diese Leute leben in einer ganz anderen Welt.“ Viele lehnen es ab, nachts eine Herberge aufzusuchen, weil sie sich dort bestimmten Gemeinschaftsregeln unterwerfen müßten:“Da wird man nur gedemütigt, ich bin doch kein Hund, der an der Kette laufen muß!“ Sie schlafen lieber in der „Freiheit“ der Straße, trotz aller Gefahren. Doch jenen „Sem-Teto“, die in Sandra Stalinskis Asyl kommen, soll ihre Autonomie, Selbständigkeit wiedergeben werden – dafür dienen die Seelsorge, die unzähligen stundenlangen nächtlichen Einzelgespräche, all die Kurse. „Wir wollen nicht, daß sich die Leute an das Straßenleben gewöhnen, nur jeden Abend im Asyl essen, duschen, schlafen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Das kann zu einer Form von Bequemlichkeit werden. Es gibt Leute, die das Asyl als angenehme Möglichkeit empfinden, Geld einzusparen – weil sie weniger verdienen oder auch weniger arbeiten.“ Sandra Stalinski macht mit allen Kunstworkshops, malt, zeichnet mit ihnen, entdeckt die unglaublichsten Talente. Was denken sie über Deutschland? „Das Paradies, das gelobte Land, wo jeder reich ist, das Geld schier vom Himmel fällt.“ Doch was weiß der deutsche Normalbürger über Brasilien? „Fußball, Samba, Caipirinha, Rio de Janeiro und die Strände als weltweit verkauftes Markenzeichen – das Elend hier ist in Deutschland niemandem bewußt.“ An der Peripherie Sao Paulos wachsen die Slums um über zehn Prozent jährlich, das Obdachlosenproblem verschärft sich zunehmend. „Weitere Massaker können geschehen“, schreibt die kleine Zeitung des „Rede-Rua“-Hilfswerks, bei der Sandra Stalinski ebenfalls mitarbeitet. „Präfektur, Staat und die Obdachlosen selber müssen endlich aktiv werden!“ In Rio de Janeiro ist die Lage keineswegs anders – die nach dem Diktator, Judenhasser und Hitlerverehrer Getulio Vargas benannte City-Avenida wird nachts zum Schlafsaal. Auf einem Kilometer nächtigen stets rund zweihundert Obdachlose. In Sao Paulo sprießen überall „Mini-Favelas“ gar an Straßenecken, Fabrikmauern. Diözese-Soziologin Eva Turin analysiert, daß die Gesellschaft heute abgrundtief individualistisch, immer weniger solidarisch sei. Daß die Gutbetuchten der besseren Viertel ihren Konsumismus, den zunehmend stärker konzentrierten Reichtum nicht etwa verstecken, sondern sogar immer offener zur Schau tragen, sei „eine Aggression, eine Provokation, ein direkt obszöner Akt gegenüber den Armen.“ So wie an der Avenida Paulista – „der eine liegt krank vor Hunger auf der Straße, der andere fährt mit dem Importauto für hunderttausend Dollar vorbei.“ Eva Turin meint, daß die Mittel-und Oberschicht diese Sozialkontraste bewußt verdrängt. „Die Deutschen hier, von Ausnahmen abgesehen, verhalten sich sogar wie die Elite der Elite, beziehen keinerlei kritische Position, solidarisieren sich nicht, erscheinen auch nicht bei uns in der Kirche.“Marcio Pochmann, renommierter Wirtschaftsexperte von der Universität UNICAMP in Campinas, sieht einen Zusammenhang zwischen Bereicherung und Dekadenz. Die Reichen von heute entstammten immer weniger den legalen produktiven Sektoren der Gesellschaft, Geldgier mache sie zunehmend entfremdeter. Der Prozeß unproduktiver Bereicherung gehe unverändert weiter, damit auch die sozioökonomische Dekadenz im Lande.
Stimmen aus Lateinamerika (SWR2, Text u. Audio)
Bei Brasilien denken die meisten Deutschen immer zuerst an Rio de Janeiros kleine Schokoladenseite, den Zuckerhut, den Copacabanastrand, Samba und Karneval. Dabei ist das 430 Kilometer entfernte subtropische Sao Paulo zwar keineswegs schöner, aber viel interessanter und nicht nur Brasiliens, sondern ganz Lateinamerikas Kultur-und Gastronomiehauptstadt. Hier dirigiert John Neschling das beste Sinfonieorchester Lateinamerikas, hier leben die populärsten Musiker des Tropenlandes – das Sertaneja-Duo Zezè di Camargo und Luciano. Jährlich werden etwa tausend Theaterstücke inszeniert. Nicht zufällig bildet das kosmopolitische Sao Paulo vor Rio den wichtigsten touristischen Anziehungspunkt des Tropenlandes. Viel mehr Deutsche steuern Sao Paulo an, nicht Rio.
Die nach Tokio und Mexico-City drittgrößte Stadt der Welt ist zudem Lateinamerikas Industriemetropole, zählt an die tausend deutsche Unternehmen und erwirtschaftet ein höheres Bruttosozialprodukt als ganz Argentinien. Extreme Sozialkontrasten fallen indessen beinahe überall ins Auge – auch die über zweitausend Slums sind nicht zu übersehen. Sao Paulo zählte einmal zu den schönsten Städten des Erdballs – hemmungslose Geldgier, kollektive Unvernunft und provozierender Individualismus haben sie in eine der häßlichsten verwandelt. Sao Paulo ist heute auch Symbol lateinamerikanischen Sozialdarwinismus. Manche verdrängen lieber, schauen nicht hin – doch die Situation der marginalisierten Paulistanos, darunter der Obdachlosen, schockiert. „Unser Land ist besudelt von Korruption, Gewalt und Lügen“, ruft Padre Julio Lancelotti vor der Kathedrale von Sao Paulo aus und ärgert damit manche Vorübergehenden. Übertreibt der Kirchenmann nicht unverschämt? Aus dem Präsidentenpalast in Brasilia kommen schließlich permanent positive Nachrichten über Wirtschaftswachstum, Rekordausfuhren und sozialen Fortschritt, was auch in Europa Beifall findet. Lange schlug der tropischen Fußballnation nicht mehr so viel Sympathie entgegen. Doch Lancelotti zählt zu Brasiliens führenden Menschenrechtsaktivisten, kordiniert in Sao Paulo das weltweit einzige Vikariat für Obdachlose und sieht die riesigen, entsetzlichen Slums an den Peripherien der Millionenstädte auch unter der Lula-Regierung immer rascher wachsen. Vor der Kathedrale prangert er mit Gleichgesinnten an, daß ein im August 2004 an Obdachlosen verübtes Massaker immer noch nicht aufgeklärt ist, tatverdächtige Militärpolizisten unbehelligt bleiben. Acht Männer und Frauen wurden damals mit Eisenstangen totgeschlagen, weiteren sechs wurde der Schädel zertrümmert – doch sie überlebten. „Das Blutbad gehört zur Schande Brasiliens“, so Lancelotti, „selbst Sklavenhalterkultur und Folter existieren weiter.“ Der Padre erhält Morddrohungen, wurde mehrfach von Unbekannten attackiert, man setzte sogar einen bezahlten Killer auf ihn an. „Jetzt fürchten wir mehr denn je um sein Leben“, sagt die Deutsche Hedwig Knist, die seit acht Jahren in Sao Paulo die katholische Obdachlosengemeinde nahe dem Luz-Bahnhof leitet. Wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit verlieren immer mehr Familien ihre Bleibe, kampieren direkt an der Gemeindekirche, unter den vielen Hochstraßen Sao Paulos – Szenen wie in Haiti, Kalkutta oder Lagos. Den Bessergestellten sind die Verelendeten vor allem in der City ein Dorn im Auge. An Lateinamerikas Leitbörse, protzigen Bankenpalästen, Oper und Pinakothek, Shopping Centers und Nobelrestaurants ärgern sich High Society und Schickeria über die zerlumpten, verzweifelten, teils übelriechenden und psychisch gestörten Gestalten, wollen von denen nicht angebettelt werden. Die vom sozialdemokratischen Bürgermeister Josè Serra geleitete Stadtverwaltung will deshalb das Zentrum jetzt von ihnen säubern. „Die sollen alle weg, an die überfüllte Peripherie, werden teilweise rausgeprügelt“, so Hedwig Knist, „immer mehr Obdachlose und Straßenkinder werden mißhandelt.“ Natürlich wenden sich die Erzdiözese und ihre Obdachlosenseelsorge gegen eine solche Vertreibungspolitik, pochen auf die Menschenrechte der „Moradores da Rua“(Straßenbewohner). „Deshalb werden wir von den Autoritäten gehaßt.“ Die Gemeindereferentin aus der Diözese Mainz macht interessante Rechnungen auf: Allein in der City stehen vierzigtausend Wohnungen leer – mehr, als es Obdachlose in Sao Paulo gibt. Würde jede Firma der lateinamerikanischen Wirtschaftslokomotive einem einzigen Obdachlosen Arbeit geben, wäre das Problem aus der Welt. Was auch Hedwig Knist besonders provoziert: Sao Paulo ist Lateinamerikas reichste Stadt, Brasilien immerhin die vierzehnte Wirtschaftsnation - genügend Geld für Soziales ist de facto vorhanden. Spenden aus Deutschland wären gar nicht nötig. Doch im neoliberal regierten Brasilien wollen die Betuchten nicht abgeben, ist eine gerechtere Einkommensverteilung nicht in Sicht. Ohne Spenden kirchlicher deutscher Hilfswerke wie Adveniat wäre auch wirkungsvolle Obdachlosenbetreuung nicht möglich. „Hedwig hat mir Auswege gezeigt, mich in Momenten der Schwäche und Unsicherheit bestärkt, bis ich es geschafft habe“, sagt Eliana de Santana. „Mit meiner kleinen Tochter lebte ich im Dreck – doch dank Hedwig und ihren Gemeindeprojekten konnte ich öffentliche Gesundheitsbetreuerin werden, habe jetzt eine winzige Wohnung.“ Sie kümmert sich in der City um kranke Obdachlose, erzwingt notfalls deren Behandlung in Kliniken. „Straßenbewohner werden diskriminiert - eine Frau hat man vor der Hospitalpforte sterben lassen!“ Hedwig Knist umarmt vorm Gottesdienst die über dreißigjährige Berenice. “Zehn Jahre hauste sie wie ein Tier zwischen Müll – jetzt macht sie Abendschule, arbeitet in der Gemeindewerkstatt, lebt in einem Wohnprojekt.Obdachlose in Deutschland – Obdachlose im riesigen Brasilien – überhaupt kein Vergleich. Jene wenigen, die in deutschen Fußgängerzonen, auf Straßen und Plätzen betteln, schlafen, herumhängen, sind gegenüber ihren brasilianischen Schicksalsgenossen geradezu in einer luxuriösen Situation. Niemand käme auf die Idee, an denen von Berlin, Frankfurt oder München Massaker zu verüben, sie lebendig zu verbrennen, gar beim Vorbeifahren aus dem Auto heraus zu erschießen. In Brasilien ist das alltäglich, Sandra Stalinski aus Aschaffenburg erlebt es als „Missionarin auf Zeit“ mit. „Von den Opfern in Sao Paulo habe ich einige gut gekannt, alles hilflose Menschen, die Schwächsten der Schwachen, gezielt ausgesucht. Ich bin deshalb psychisch richtig zusammengebrochen, habe stundenlang geweint. Die Tatorte sind ja immerhin mein Arbeitsbereich. Das Massaker, denke ich, wurde aus politischen Gründen kurz vor Kommunalwahlen inszeniert, um es politisch auszuschlachten.“ Denn Sandra Stalinski macht der ganze Medienrummel um den Fall stutzig, die gegenseitigen Anschuldigungen der Politiker. Soviel öffentliche Resonanz sei nicht normal, man hätte alles auch unter den Tisch kehren können.
„Ich bin kein Mensch, ich bin Müll“
Wie üblich, wenn es „Sem-Teto“, Obdachlose, trifft, die häufig von der autoritären, egozentrischen Gesellschaft Brasiliens wie Nicht-Menschen betrachtet werden. „Man setzt sie mit Müll gleich. Und das Schlimme ist: Die Obdachlosen sagen selber schon, ich bin kein Mensch, ich bin Müll.“ Um so nötiger ist soziale Betreuung, die „Missionaria“ Stalinski nicht etwa weit entfernt an der Slumperipherie, sondern sogar mitten in der modernen City, neben dem pompösen Gebäude der lateinamerikanischen Leitbörse und den Großbanken, unweit feiner Manager-Restaurants, leistet. Oder selbst auf den Stufen der Kathedrale, oft gleich unter Gruppen tief verzweifelter, teils stark betrunkener Obdachloser. Unter all den Menschenmassen quält diese, einsam, ausgestoßen, ausgeschlossen zu sein – um so dankbarer für Hilfe, ein tröstendes Wort, ein Gespräch.„Auf dem Platz davor sieht man alles – Überfälle, Streit und Tod.“ Denn die skandalösen Sozialkontraste Brasiliens liegen noch so offen wie zur Sklavenzeit: Manager in feinem Tuch, aufgeputzte Chefsekretärinnen kreuzen in Sao Paulos Innenstadt tagsüber alle paar Schritte Obdachlose, Bettler, Verkrüppelte, gar alte, zerlumpte schwarze Frauen, die sich ächzend vor hochbeladene Lastkarren spannen. Das Massaker geschah just in der trubeligen City – nur zu viele der Privilegierten haben sich an den Anblick jener etwa 16000 Straßenbewohner Sao Paulos, „Moradores da Rua“, schlichtweg gewöhnt, nehmen sie kaum noch wahr, unglaubliche Indifferenz dominiert. In Deutschland gäbe es nach solchen Untaten einen öffentlichen Aufschrei – hier stößt Sandra Stalinkski sogar während eines kleinen Protestmarsches auf offene Abweisung – ihre Flugblätter werden von nicht wenigen Schlipsträger aus Banken, Geschäftshäusern abgelehnt:“Nee, kannste behalten, interessiert mich nicht. Da ist mir die Galle hochgekommen – soviel Ignoranz!“ Obdachlosen, so sagen viele, „verschmutzen“ das Stadtbild, verrichten ihre Notdurft überall – auch wegen ihnen stinkt es in den brasilianischen Großstädten vielerorts barbarisch nach Urin und Menschenkot.Sandra Stalinski arbeitet vorwiegend in einem Nachtasyl für 120 Männer, wird zwangsläufig Expertin in hausgemachter brasilianischer Sozialproblematik, auch brasilianischer Religiosität. Denn überall stößt sie auf einen ihr völlig neuen Bezug zu Gott:“Die Brasilianer sind viel religiöser als wir Deutschen, leben den Glauben wesentlich emotionaler, feiern Gottesdienste viel gefühlvoller, mit Liedern und Gesten. Man tanzt dort sogar, was ich gleich gar nicht kannte. Auch die Obdachlosen sind religiös und sagen, daß es letztendlich in Gottes Hand liege, ob sie sich aus dieser Situation befreien können. Sie sind fatalistisch, passiv, finden sich mit ihrem Schicksal ab, meinen, daran nichts ändern zu können. Ihre Lage sei scheinbar Gottes Wille. Und so eine Haltung kritisiere, hinterfrage ich natürlich.“ Doch kaum Resonanz, wie die Missionarin verkraften muß. „Mit denen darüber zu reden, ist ganz schwierig, da habe ich eigentlich keine Chance.“ Sie beobachtet zudem, wie sogar direkt vor der Kathedrale tagtäglich zahlreiche Sektenprediger agieren, mit der Bibel in der Hand allen Ernstes wie wild herumspringen. Das einerseits so moderne Sao Paulo ist auch Zentrum archaischster Wunderheiler-und Exorzisten-Sekten, die man bestenfalls weit im Hinterland vermutet hätte. „Ich empfinde das schockierend, laufe in den Straßen an Hallen vorbei, wo gerade ein Sektenpriester schreit, über den Satan spricht. Manche Obdachlose erzählen von Sekten, haben einen sehr fundamentalistischen Glauben, nehmen die Bibel wortwörtlich. Bei ihnen hat jedes zweite Wort mit Gott zu tun. Auf der Straße, unter den Obdachlosen gibts alle möglichen Religionen, wahnsinnig viele Freikirchen. Wir sind daher in den Projekten von „Rede Rua“ ökumenisch, nicht nach einer bestimmten Religion ausgerichtet, halten keinen rein katholischen Gottesdienst, aber Gebetsstunden ab, feiern natürlich religiöse Feste wie Ostern und Weihnachten. Ganz besonders wichtig für die Bewohner der Straße.“ Die ganze zwiespältige, komplexe, widersprüchliche Obdachlosenproblematik wird von der Missionarin sachlich, illusionlos gesehen, ohne sozialromantische Scheuklappen. Da in Brasilien ein soziales Netz wie in mitteleuropäischen Ländern fehlt, geht der Absturz in die Obdachlosigkeit ganz rasch, oft von heute auf morgen. “Man verliert die Arbeit, dann ganz schnell auch die Wohnung – und wohin dann? Auf die Straße.“ Andere sind aus tausende Kilometer entfernten Regionen Brasiliens quasi nach Sao Paulo eingewandert, hofften in der Industriestadt auf einen Job, hörten wohl nichts von grassierender Rekordarbeitslosigkeit.
Machismus, Alkoholismus und harte Drogen
„Wenn Ehen auseinanderbrechen, gehen die Männer oft aus Wut und Trotz einfach weg, landen auf der Straße - fast nie die Frauen. Das hat viel mit dem lateinamerikanischen Machismus zu tun. Die Männer sind unheimlich stolz, sehr machistisch, sehen es nicht ein, etwa ihren Teller abzuwaschen, ihre Sachen zu säubern. Und bei Entlassung halten sie es einfach nicht aus, daß die Frau für den Lebensunterhalt der Familie sorgt – und flüchten einfach, greifen zur Flasche.“ Absurderweise ist simpler Zuckerrohrschnaps, Cachaca, in Brasilien billiger als Milch – was würde sich in Deutschland abspielen, wenn der Liter Wodka oder Korn weit weniger als einen Euro kostete? „Für die brasilianischen Männer ist es fast normal, Cachaça zu trinken und in einer schwierigen Situation in den Alkoholismus abzurutschen.“ Kokain, Crack kosten im Vergleich zu Deutschland ebenfalls nur Spottpreise, sind daher selbst für Slumbewohner erschwinglich. Schnaps, Rauschgift dienten zum Ruhigstellen von Problemgruppen, etwa Strafgefangenen, würden deshalb in die Knäste bewußt hineingelassen – sagen selbst katholische Pfarrer. „In unserem Nachtasyl sind 98 Prozent alkohol-oder drogenabhängig“, so Sandra Stalinski, „ein Problem, mit dem wir ganz viel zu kämpfen haben, das sie aber nicht thematisieren.“ Abends deshalb immer dasselbe Ritual: „Wenn die Leute unheimlich betrunken ankommen, würden sie in der Herberge Streit anfangen, gäbe es Konflikte. Also lassen wir sie erst vor der Tür warten, etwas nüchterner werden.“ Bei den Männern stößt sie teils auf tiefste Verwahrlosung, gar Verrohung – auf einen Teufelskreis, nur ganz schwer zu durchbrechen. Denn das Leben auf der Straße ist unbeschreiblich hart, auch grausam:“ Da kann man nicht zartbesaitet sein, da muß man auch zum Messer greifen und töten, um sein eigenes Leben zu schützen – diese Leute leben in einer ganz anderen Welt.“ Viele lehnen es ab, nachts eine Herberge aufzusuchen, weil sie sich dort bestimmten Gemeinschaftsregeln unterwerfen müßten:“Da wird man nur gedemütigt, ich bin doch kein Hund, der an der Kette laufen muß!“ Sie schlafen lieber in der „Freiheit“ der Straße, trotz aller Gefahren. Doch jenen „Sem-Teto“, die in Sandra Stalinskis Asyl kommen, soll ihre Autonomie, Selbständigkeit wiedergeben werden – dafür dienen die Seelsorge, die unzähligen stundenlangen nächtlichen Einzelgespräche, all die Kurse. „Wir wollen nicht, daß sich die Leute an das Straßenleben gewöhnen, nur jeden Abend im Asyl essen, duschen, schlafen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Das kann zu einer Form von Bequemlichkeit werden. Es gibt Leute, die das Asyl als angenehme Möglichkeit empfinden, Geld einzusparen – weil sie weniger verdienen oder auch weniger arbeiten.“ Sandra Stalinski macht mit allen Kunstworkshops, malt, zeichnet mit ihnen, entdeckt die unglaublichsten Talente. Was denken sie über Deutschland? „Das Paradies, das gelobte Land, wo jeder reich ist, das Geld schier vom Himmel fällt.“ Doch was weiß der deutsche Normalbürger über Brasilien? „Fußball, Samba, Caipirinha, Rio de Janeiro und die Strände als weltweit verkauftes Markenzeichen – das Elend hier ist in Deutschland niemandem bewußt.“ An der Peripherie Sao Paulos wachsen die Slums um über zehn Prozent jährlich, das Obdachlosenproblem verschärft sich zunehmend. „Weitere Massaker können geschehen“, schreibt die kleine Zeitung des „Rede-Rua“-Hilfswerks, bei der Sandra Stalinski ebenfalls mitarbeitet. „Präfektur, Staat und die Obdachlosen selber müssen endlich aktiv werden!“ In Rio de Janeiro ist die Lage keineswegs anders – die nach dem Diktator, Judenhasser und Hitlerverehrer Getulio Vargas benannte City-Avenida wird nachts zum Schlafsaal. Auf einem Kilometer nächtigen stets rund zweihundert Obdachlose. In Sao Paulo sprießen überall „Mini-Favelas“ gar an Straßenecken, Fabrikmauern. Diözese-Soziologin Eva Turin analysiert, daß die Gesellschaft heute abgrundtief individualistisch, immer weniger solidarisch sei. Daß die Gutbetuchten der besseren Viertel ihren Konsumismus, den zunehmend stärker konzentrierten Reichtum nicht etwa verstecken, sondern sogar immer offener zur Schau tragen, sei „eine Aggression, eine Provokation, ein direkt obszöner Akt gegenüber den Armen.“ So wie an der Avenida Paulista – „der eine liegt krank vor Hunger auf der Straße, der andere fährt mit dem Importauto für hunderttausend Dollar vorbei.“ Eva Turin meint, daß die Mittel-und Oberschicht diese Sozialkontraste bewußt verdrängt. „Die Deutschen hier, von Ausnahmen abgesehen, verhalten sich sogar wie die Elite der Elite, beziehen keinerlei kritische Position, solidarisieren sich nicht, erscheinen auch nicht bei uns in der Kirche.“Marcio Pochmann, renommierter Wirtschaftsexperte von der Universität UNICAMP in Campinas, sieht einen Zusammenhang zwischen Bereicherung und Dekadenz. Die Reichen von heute entstammten immer weniger den legalen produktiven Sektoren der Gesellschaft, Geldgier mache sie zunehmend entfremdeter. Der Prozeß unproduktiver Bereicherung gehe unverändert weiter, damit auch die sozioökonomische Dekadenz im Lande.
Stimmen aus Lateinamerika (SWR2, Text u. Audio)
Das Gewaltlabor
Von Ralf Hoppe
Die Unterwelt greift nach der Macht, die Reichen von São Paulo verbarrikadieren sich in Luxusburgen und fühlen sich nur in Hubschraubern sicher - die größte Stadt auf der Südhalbkugel der Erde gibt eine Vorahnung von der Zukunft der Mega-Citys.
Elvira de Souza will ihren Nachbarn töten. Aber sie darf nichts überstürzen, sie muss nachdenken. Sie redet so darüber, als sei es nichts Besonderes.Meint sie es ernst?Und während Elvira de Souza in der hintersten Kammer ihres verschachtelten, nach Kot, Katzenpisse und Bohneneintopf riechenden Hauses sitzt, in der Favela von Jabaquara, während sie auf einer Matratze hockt und raucht, stehen fünf Autominuten entfernt, auf der anderen Seite der Avenida Pedro Bueno, zwei Herren an einem Tresen. Sie stehen in einer VIP-Lounge, Chrom, Glas, Leder. Die Teppiche sind tief, das Licht gedämpft. Die Serviererin lächelt, als habe sie Geburtstag und als hätte sie sich immer schon einen so kurzen Rock gewünscht.Die beiden Geschäftsleute stehen im Hauptquartier von Tam, von "Táxi Aéro Marília", am Südrand des Flughafens Congonhas, an der Rua Monsenhor Antonio Pepe. In den firmeneigenen Hangars parken 7 Jets, 16 Turboprops und die Helikopter, die tagsüber ständig unterwegs sind und fast so schnell verkauft werden, wie man sie importiert. Rui de Aquino, der Geschäftsführer, will die Flotte demnächst verdoppeln.Aquino ist einer der beiden Männer am Tresen. Sein Gegenüber ist schlank, lange Haare, er trägt eine randlose Brille. Er spricht schnell, wirft die Hände in die Luft."Rui, dies ist nur der Vorgeschmack. Sie üben! Sie wollen nicht nur ein paar Banken überfallen. Oder ein paar Busse anzünden oder ein paar Polizisten abschlachten, sie üben für den Tag X", sagt der Mann mit der randlosen Brille.
Sein Name ist Sérgio de Nadai, der Sohn eines Schlachtermeisters, inzwischen einer der reichsten Männer von São Paulo, hat als Verkäufer von Lotterielosen angefangen. De Nadai ist Gründer und Inhaber einer Firma für Catering - 320.000 Portionen täglich an Krankenhäuser, Kantinen, Gefängnisse in ganz Brasilien, 3000 Mitarbeiter -, er besitzt Hotels, Hubschrauber, Plantagen. Jeder dritte Inhaftierte im Bundesstaat São Paulo kriegt seine täglichen Mahlzeiten aus einer der Großküchen von de Nadais "Alimentaçao com tecnologia": morgens und abends Brot und Malzkaffee, mittags Rindfleisch, Bohnen, Reis sowie Obst. Aber niemals Bananen - seit vor acht Jahren Gefangene einen zwölf Meter langen Fluchttunnel bauten und die Tunnelwände mit einem Gemisch aus Bananenbrei, Speichel und Sand verfestigten. Der Tunnel aus Bananenbrei - es ist eine der Lieblingsgeschichten de Nadais'.Man sieht ihm seine 53 Jahre nicht an. Jeden Morgen steht er um halb sieben auf, eine halbe Stunde Gymnastik, dann zehn Stunden Arbeit. Am Wochenende spielt er Fußball, Golf, geht zum Bogenschießen, macht Ausflüge mit seiner Harley und einem Gefolge schwerbewaffneter Bodyguards."Der Tag X", sagt Aquino, "von dem du da redest, was glaubst du, was sie wollen?""Sie wollen die Stadt", sagt de Nadai, "sie wollen das Kommando übernehmen."Und als Aquino nicht gleich antwortet, fügt er hinzu: "Sie wollen uns drankriegen, Rui."Gemeint sind die Unterweltler von São Paulo. Die Kuriere, Dealer, Mörder, Reifendiebe und Kidnapper der Stadt, die jungen Frauen, boshaften Greise, die muskelbepackten Männer, die Zwölfjährigen in kurzen Hosen, und nahezu alle sind bewaffnet. Sie sind Bewohner der schätzungsweise 2000 bis 2400 Favelas von São Paulo allein im Stadtgebiet, organisiert im "Primeiro Comando da Capital", dem "Ersten Hauptstadtkommando". Ein sperriger Name, alle sagen ohnehin nur PCC, wie bei einer Partei. Und stünde Elvira de Souza in diesem Moment in der Lounge, stünde sie neben de Nadai am Tresen, würde sie ihm sogar zustimmen. Si, Senhor, unser Aufstand ist politisch, wir glauben nicht an Wahlversprechen, an Almosen, wir wollen die Macht, ein besseres Leben.Elvira de Souzas Hütte in Jabaquara ist gegen die Straße mit einer übermannshohen Mauer und einem hundertfach geflickten Blechtor abgeriegelt. Oben am Tor ragen angeschweißte Harpunenspitzen gen Himmel.Eine Küche, in der es von Fliegen wimmelt. Schnaken, Flöhe, Nissen, Zecken, Tausendfüßer, Milben, Wanzen, alles, was surrt, bohrt, beißt, sticht, scheint versammelt. In drei Zimmern leben - die beiden Schwiegersöhne David und Augusto mitgezählt - 12 Menschen; sie kauern vorm Fernseher, abends sitzen sie auf Plastikstühlen im Hof, kiffen und trinken aus der Flasche Cachaça, den Zuckerrohrschnaps. An guten Tagen kauft David Whisky.Elvira ernährt ihre Familie mit kleineren Raubüberfällen, die sie von anderen ausführen lässt, und vor allem durch Drogenhandel, Heroin und Kokain. Gelegentlich fährt sie an die bolivianische Grenze, um Ware abzuholen. Meistens aber organisiert sie nur den Verkauf innerhalb São Paulos an die "Playboys", wie sie ihre Kunden nennt, junge Männer aus der Mittelschicht - Elvira braucht sie, verachtet sie, hasst sie.Sie ist gesprächig, aber sie erzählt nicht alles. Der Abstellraum neben ihrer Schlafkammer etwa ist bis unter das Dach gefüllt mit Laptops, Monitoren, Tastaturen, an die 200 Geräte, wahllos gestapelt und bereits von einer Staubschicht bedeckt. Daneben zwei Kartons voller Stecker und Kabel. Elvira hat keine Ahnung, wie man einen Computer anschließt.Sagen Sie, Elvira, woher stammen all diese Geräte?Die? Sie lacht. Die waren irgendwann hier. Einfach so! Sie schnippt mit den Fingern, hustet, krümmt sich.
In der Hierarchie des PCC nimmt Elvira eine mittlere Position ein. Sie verwaltet einen kleinen Teil dieser Favela, ihren Straßenzug: Die Gauner, Dealer, Kleingangster, die hier unterschlüpfen, zahlen keine Miete. Dafür sind sie ihr gegenüber rechenschafts- und abgabepflichtig. So wie auch Elvira de Souza umsonst wohnt, jedoch den beiden Bossen der Favela unterstellt ist.Elviras Mutter war weiß, ihr Vater schwarz. Er war ein Mistkerl, sagt sie, ein Schwein, wie alle Männer. Sie lacht.Gibt es auch anständige Männer, Elvira?Sie überlegt. Ja, aber die sitzen im Gefängnis, wie mein Fumega, mein Mann. Und weil er zu gut ist für diese Welt, wird er im Gefängnis bleiben, bis er verfault.Und weswegen sitzt er?Raubüberfall. Sie zuckt die Achseln.Elvira de Souza hat dunkle Locken, drei ihrer oberen Schneidezähne fehlen, sie hält die Hand vor den Mund, wenn sie lacht. Ein heiseres Lachen.Zehn Kinder hat Elvira de Souza in 18 Jahren geboren, zehn Kinder von sieben Männern - und eines ihrer Kinder, ein Junge, 14-jährig, wurde vor wenigen Wochen erschossen.Von Polizisten erschossen?Nein, nein, sagt sie. Es waren die Nachbarn, das habe ich inzwischen herausgefunden. Sie wohnen nur eine Straße weiter, wir grüßen uns sogar, sie wissen nicht, dass ich weiß, dass sie es waren.Ich habe ihn geliebt, sagt sie, ich werde ihn rächen. Schlimm nur, dass ich kein Foto habe, sagt sie, hustet und spuckt auf den Fußboden.2006 ist für São Paulo das Jahr der Gewalt. Nie zuvor hat es so heftige, anhaltende Schlachten gegeben zwischen Gangstern und Polizei, konzertierte Attacken, die die Riesenstadt über Tage lähmten. Busse brannten, Handgranaten wurden aus vorbeirasenden Autos geschleudert, maskierte Plündererbanden zogen durch die nächtlichen Straßen, auch innerhalb des PCC wurden Machtkämpfe ausgetragen. Schätzungsweise 180 Menschen starben bei diesen Kämpfen, die im Mai begannen, sich im ganzen Land ausweiteten und in den folgenden Monaten immer wieder aufflackerten.Die Unterwelt hat den Staat herausgefordert. Es ist höchste Zeit, finden die Leute in den Favelas.In São Paulo leben 10 Millionen Menschen, im Großraum sind es 18 bis 20 Millionen. Die Fläche der Stadt erstreckt sich über 1523 Quadratkilometer, das Siebeneinhalbfache von Stuttgart, doch leben hier 17-mal so viele Menschen, São Paulo ist die sechstgrößte Stadt der Welt, auf der Südhalbkugel ist sie die größte.Inmitten dieses Durcheinanders aus Reichtum und stinkendem Elend, aus glitzernden Türmen und grauen Hütten blies die Unterwelt zum Kampf, und die Oberschicht zog sich noch weiter zurück in die Séparées des Geldes, in solche abgedunkelten Flecken wie die VIP-Lounge des Tam, in der sich Geschäftsleute wie Aquino und de Nadai über die jüngsten Schießereien auf den Straßen unterhalten und über den Kauf eines neuen Hubschraubers, die "Bell 430", die größer ist als die "Bell 429", die Aquino schon hat.Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Hubschrauberlandeplätze als in São Paulo. Nirgends ein luxuriöseres Kaufhaus als das Daslu. Ein Kaufhaus, wo man am Portal wie ein heimkehrender Maharadscha empfangen wird, von Scharen livrierter Portiers umdienert, von Trauben bildhübscher Mädchen bedient und mit Champagner oder Blue-Label-Whisky bewirtet - und nur im Daslu gibt es unterm Dach einen Ballsaal und auf dem Dach einen Helikopterlandeplatz. Wer noch keinen Hubschrauber hat, kann einen im dritten Stock kaufen. Seidene Herrensocken kosten 180 Dollar.Und nebenan, man geht nur um die Ecke, liegt die Rua Coliseu. Am Beginn dieser Straße sollte man nicht weiter gehen, es sei denn, man hätte sich bei den Dealern per Handy angemeldet. Dann wird man abgeholt und als guter Kunde bewirtet, fast wie nebenan im Daslu.Seit je gehört der Überfall in São Paulo zur Folklore, zum Lebensrisiko, auch für Stewardessen, Busfahrer, Handwerker. Die Brasilianer, mit ihrem Talent zur Leichtigkeit, erzählten sich solche Geschichten als Partytalk: neulich, in der Tiefgarage, neulich, an einer Ampel.Das geraubte Geld nehmen die Gangster als eine Art Solidarzuschlag, als forcierte Umverteilung, zwischen den Elvira da Souzas und den Sérgio de Nadais' der Stadt.Im Oktober vergangenen Jahres lehnten bei einem Volksentscheid 64 Prozent der Wähler ein Verkaufsverbot für Schusswaffen ab. 17 Millionen Revolver, Gewehre, Pistolen, Maschinengewehre, schätzt die Polizei, gibt es in brasilianischen Haushalten. 36 000 Menschen werden im Jahr erschossen.Doch dann schien eine Besserung einzutreten: Nach einer Studie der Universität von São Paulo ging die Zahl der Morde zwischen 1999 und 2004 zurück. Dies war die Zeit, als die PCC erstarkte, die Hierarchie entwickelte, sich formierte.Dann kam das Jahr 2006. Es kam der Winter des Todes, wie die Journalisten die Monate von Mai bis Juli tauften. Und niemand hatte damit gerechnet, alle waren schockiert, kalt erwischt von dem Ausbruch der Gewalt.Bis auf einen.Der Professor lebt zurückgezogen in Villa Madalena, früher ein Künstlerviertel, jetzt großbürgerlich. Platanen, Bougainvillea, Eukalyptusbäume, und hinter den Hecken und Zäunen kann man die im Kolonialstil erbauten Villen erahnen.
Der Zaun vor der Villa von Walter Maierowitsch, mit Stahlplatten zusätzlich gesichert, misst 3,80 Meter in der Höhe, ebenso hoch ist das grüngestrichene Stahltor, dessen Torflügel oben scharf geschliffen sind. Sobald man klingelt, schlagen Hunde so an, als hätten sie Übung darin, Besucher binnen Sekunden zu zerfleischen.Es dauert fast 20 Minuten, bis die Männer am Tor alles geprüft, die Hunde gebändigt haben. Maierowitsch bittet in den Wintergarten, er erweist sich als eleganter Melancholiker, der trotz der Hitze eine grüne Seidenkrawatte trägt und beim Dienstmädchen Kaffee, Limonade und Petits Fours bestellt.Maierowitsch hat so ziemlich alles gemacht, was mit Verbrechensbekämpfung zu tun hat. Er lehrte Strafrecht in São Paulo, bildete Richter und Staatsanwälte aus, beriet den Präsidenten, gründete ein eigenes Institut, benannt nach Giovanni Falcone, dem sizilianischen Staatsanwalt, der von der Mafia ermordet wurde. Jahrelang warnte er vor den neuen Mafia-Organisationen, die sich formierten, das "Comando Vermelho", das "Rote Kommando", oder die "Amigos dos Amigos" in Rio, und das PCC in São Paulo.Maierowitsch warnte vor dem Tag X, da die Mafia losschlagen würde. Er hatte Ideen für die Reform der Gefängnisse, der Exekutive, der sozialen Rolle des Staates.Wie viel wurde umgesetzt von Ihren Vorschlägen, Professor Maierowitsch?Ach, schrecklich wenig, sagt er.Melancholisches Lächeln.Dann lehnt er sich zurück und erzählt.Der Aufstand der Unterwelt brauchte einen Anlass, und den gab ein ehemaliger Hausmeister. Der Mann war im Parlament zuständig für die Lautsprecheranlage und schnitt im Frühjahr dieses Jahres eine Diskussion mit. Zwei ranghohe Polizisten erläuterten, wie man mit dem PCC verfahren würde. Nämlich die inhaftierten Gangsterbosse in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegen, nach Presidente Venceslau, knapp 600 Kilometer entfernt von São Paulo, an der Grenze zum Bundesstaat Mato Grosso do Sul.Der Hausmeister brannte zwei CDs und verscherbelte sie für 200 Reais, 70 Euro. Die mit Mobiltelefonen ausgestatteten PCC-Bosse konnten sich in ihren Zellen die Vorschläge in aller Ruhe anhören, in einer Telefonkonferenz. Den ganzen Plan. Er gefiel ihnen nicht.Sie gaben das Zeichen zum Angriff.Aufstände in 73 Gefängnissen, sagt Maierowitsch. Angriffe, teilweise mit Maschinenpistolen, Sprengsätzen und Handgranaten, auf Polizeireviere. In einer zweiten Welle wurden die städtischen Linienbusse abgefackelt, wahrscheinlich von den Betreibern illegaler Buslinien, die bei dieser Gelegenheit ihre Konkurrenz eindämmen wollten. Heckenschützen lauerten Polizisten auf, wenn die abends in ihr Apartment gehen wollten. Fünf Tage, an denen die Stadt brannte, in Blut versank. 800 bis 1000 Anschläge, 180 Tote. Eine Demonstration, sagt Maierowitsch.Das PCC, sagt er, zeigte, was es kann. Das "Primeiro Comando da Capital" war aus einer Fußballmannschaft entstanden. Im Gefängnis von Taubaté, 120 Kilometer von São Paulo, durften die Häftlinge im Hof kicken. Acht Gefängnisinsassen bildeten jeweils eine Mannschaft, und eines dieser Teams holte regelmäßig den Knast-Cup, weil niemand es wagte, gegen sie zu gewinnen. Sie waren die gefährlichsten, schlauesten acht Gangster Brasiliens, damals, vor 13 Jahren.Und wenn sie als Fußballmannschaft schon so erfolgreich waren, fanden sie, warum dann nicht als Mafia?Die Schätzungen über die derzeitige Mitgliederzahl schwanken. Maierowitsch geht davon aus, dass das PCC immer noch expandiert, er vermutet, dass 90 Prozent aller in den Stadtgefängnissen von São Paulo Inhaftierten organisiert sind - denn nur so könnten sie im Gefängnis überleben. Im ganzen Bundesstaat, inklusive der in Freiheit lebenden kleinen und mittleren Gauner wie Elvira de Souza, könnten es weit über 100.000 PCC-Mitglieder sein.Das PCC, so Maierowitsch, bewegt im Monat über eine Million Reais. Jeder Gefangene, der vor seiner Inhaftierung Geld beiseite geschafft hat, zahlt 150 Reais im Monat, rund 50 Euro. Freigänger zahlen 200 Reais, Entlassene müssen 300 Reais entrichten, außerdem ein Zehntel ihrer sonstigen Einnahmen. Dafür kauft man eine Art Schutzbrief - so wie beim ADAC.Sobald jemand ins Gefängnis eingeliefert wird, kommen PCC-Leute und unterbreiten einen Vorschlag. Gleichzeitig nehmen Außenarbeiter Kontakt mit den Angehörigen auf. Wenn der Inhaftierte beitritt, kümmern sie sich um die Familie, besorgen Ärzte, unterstützen die Frauen, regeln Racheangelegenheiten. Halbwegs sicher kann man seine Strafe absitzen; nur aussteigen kann man nicht mehr. Das Gangstertum spielt Sozialstaat, sagt Maierowitsch, schlau in einem Land, in dem Politiker grundsätzlich unter Unfähigkeits- und Korruptionsverdacht stehen. Schätzungsweise 20 Prozent der Bevölkerung São Paulos leben in einer Favela.Möglicherweise ersonnen, sicherlich aber perfektioniert hat dieses System der jetzige Boss des PCC, ein Mann namens Marcos Willians Herbas Camacho, alias "Marcola", der etwa 2002 die Macht übernahm.Marcola ist erst 38 und schon eine Legende, Idol für jene romantischen Projektionen, die im Elend blühen. Maierowitsch malt eine Pyramide: Oben ist Marcola, ihm arbeiten etwa 80 Führungsoffiziere zu, die wiederum, hier muss man schätzen, etwa 4000 "Sergeanten" befehligen. Darunter ist die breite Basis: Sympathisanten, die aus Angst oder Respekt ihren Anteil abliefern. Über Marcola kursieren Rap-Songs, er soll in seiner Zelle jeden Tag ein Buch lesen, Nietzsche, Gesetzesbücher, Schopenhauer, ein Genie, sagen die Favela-Leute, ein Ché Guevara der Mörder.Elvira de Souza hat ihn einmal gesehen, behauptet sie. Eitel sei er. Aber wunderschön. Er liebt die Armen, sagt sie.Wer im PCC aufsteigen will, bekommt zwei Paten, die verantwortlich sind, ihr Leben lang. Bei Elvira waren es die Favela-Bosse von Jabaquara. Elvira wurde getauft, man goss ihr ein Glas Schnaps über den Kopf, sie bekam eine mit vielen Schnörkeln handgeschriebene Beitrittsurkunde, einen 16-Punkte-Kodex, in dem viel von Ehre die Rede ist.Als Erstes wurde Elvira die Miete des Hauses erlassen. Als Nächstes schickte man sie in eine sechswöchige Ausbildung zur Krankenschwester - spezialisiert auf Schusswunden, sie musste einem Arzt bei Operationen assistieren und Fiebernde pflegen. Im Gegenzug bekam ihr Mann Fumega eine bessere Zelle: mit etwa 20 Mann statt über 30, er durfte nachts in einem der Betten schlafen statt auf dem Fußboden. Ihre Kinder bekamen Schulbücher.Der Bürgerkrieg, sagt Maierowitsch, war eine Demonstration, ein Signal an die anderen Gangsterorganisationen: Seht her, was wir vermögen, wie viel Geld, wie viele Leute wir aufstellen. Das PCC, sagt Maierowitsch, hat jetzt ein politisches Image, es ist eine Marke wie Mercedes oder al-Qaida. Angst und Treue, so wird eine Organisation zusammengehalten. Man müsse in die Köpfe und Herzen der Leute, das Image lautet: Uns gehört die Stadt.Das bedeutet für die Leute aus der Oberschicht wie de Nadai, dass sie sich nicht mehr wie früher bewegen können, auch nicht in der Innenstadt, die in ihrem Randbezirk "Crackolandia" genannt wurde, Crack-Land. Dasselbe gilt für seine Frau Sandra, selbst wenn sie nur ins Daslu zum Einkaufen fliegt, auch für de Nadais Söhne Fernando und Fabricio. Wenn sie nicht den Hubschrauber nehmen, benutzen sie zwei silbergraue, mit Panzerglas gesicherte S-500-Mercedes. Sie würden gern mal ohne Bodyguards unterwegs sein, aber ihr Vater verbietet es.1993 wurde seine jüngere Schwester Mariangela überfallen, tagsüber und auf offener Straße. Die Kidnapper wollten wahrscheinlich nur ein sequestro relâmpago durchführen, eine Blitzentführung: Man fährt mit dem Opfer zum nächsten Geldautomaten, lässt es alles abheben, gibt ihm oder ihr einen Tritt, Ende. Die Männer zwangen Mariangela in ein Auto, rasten los, an einer Kreuzung krachte das Auto der Gangster in einen Lieferwagen. Die Kidnapper konnten fliehen, sie ließen Mariangela mit gebrochener Halswirbelsäule zurück.De Nadais Schwester lag 14 Monate lang auf der Intensivstation des Albert-Einstein-Krankenhauses. De Nadai ließ Ärzte aus den USA einfliegen, heuerte Dutzende von Privatdetektiven an, vergebens. Seine Schwester starb, die Entführer blieben unentdeckt.Er hat daraus gelernt, sagt er.Die Gewalt wirkt wie eine Zentrifuge. Sie trennt die Gesellschaft. Mega-Städte wie São Paulo zerfallen in Schichten - sie bilden eine Unterwelt aus, die eine eigene Gesellschaft bildet, das System des Staates imitiert, darüber die schmale Stadt der Mittelschicht, die sich mit allen Kräften abschottet, darüber die Schicht der Reichen und der Mega-Reichen. Folgerichtig, dass die Millionäre in die nächsthöhere Ebene ausweichen, in den Hubschrauber steigen.Gegenüber vom Daslu, auf dem Westufer des Rio Pinheiros, im Stadtteil Cidade Jardim, der Gartenstadt, gab es früher einen kleinen Berg. Jetzt ist dort ein Loch. Und in diesem gewaltigen Loch krabbeln Heerscharen gelbbehelmter Bauarbeiter herum und lassen von Tagesanbruch bis zum späten Abend tonnenweise Beton und Armierung darin verschwinden. Nach dem Willen der Investoren werden es umgerechnet 640 Millionen Euro sein, die hier versenkt sein werden. Die teuerste Immobilienentwicklung Brasiliens soll es sein, eine Trutzburg der Oberschicht.In Cidade Jardim entsteht ein neues São Paulo, ein São Paulo der vierten Dimension, das jede Berührung mit dem Rest der Stadt erspart: ein Wohn-, Einkaufs- und Arbeitskomplex auf 135.000 Quadratmetern, mit neun Wohn- und Bürotürmen, umgeben von Palmen und Parks, ausgestattet mit Einkaufsmalls, acht Kinos und dem größten Sportcenter Südamerikas. Nur mit einem Jahreseinkommen ab 150.000 Euro darf man eine der Wohnungen kaufen, die kleinste misst 240, die größte 780 Quadratmeter. Das Areal ist der Versuch, der Allmacht des PCC zu entkommen, jede Begegnung mit den Elvira de Souzas von vornherein zu vermeiden.Elvira hat von dem Projekt noch nichts gehört; aber sie würde es wahrscheinlich als Erfolg verbuchen - die Reichen haben Angst, gut so, sollen sie. Sie hat inzwischen ihren Schwiegersohn David gebeten, ihr eine neue und handliche Waffe zu besorgen. Sie selbst wird bei den Bossen der Favela durchblicken lassen, was sie vorhat. Sie wird erklären, dass sie ein Recht auf ihre Rache habe. David bringt ihr eines Abends einen Indumil-Revolver Modell "Cassidy" mit langem Lauf.Meint sie es wirklich ernst?Doch noch am selben Abend muss Elvira de Souza erkennen, dass sie die PCC unterschätzt hat. Die zwei Bosse, die die Favela regieren, ihre Paten und damit ihre Vorgesetzten, statten ihr einen Besuch ab.Die beiden Männer, wird Elvira später erzählen, blieben nicht lange, wurden nicht laut, waren freundlich. Doch nebenbei erklärten sie ihr, sie wünschten keine Alleingänge und im Viertel keine Unruhe.Elvira de Souza verstand. Dies ist die neue Zeit. Sie wird also ihren Nachbarn nicht töten. Aber vielleicht später, der Krieg ist nicht zu Ende.
Die Unterwelt greift nach der Macht, die Reichen von São Paulo verbarrikadieren sich in Luxusburgen und fühlen sich nur in Hubschraubern sicher - die größte Stadt auf der Südhalbkugel der Erde gibt eine Vorahnung von der Zukunft der Mega-Citys.
Elvira de Souza will ihren Nachbarn töten. Aber sie darf nichts überstürzen, sie muss nachdenken. Sie redet so darüber, als sei es nichts Besonderes.Meint sie es ernst?Und während Elvira de Souza in der hintersten Kammer ihres verschachtelten, nach Kot, Katzenpisse und Bohneneintopf riechenden Hauses sitzt, in der Favela von Jabaquara, während sie auf einer Matratze hockt und raucht, stehen fünf Autominuten entfernt, auf der anderen Seite der Avenida Pedro Bueno, zwei Herren an einem Tresen. Sie stehen in einer VIP-Lounge, Chrom, Glas, Leder. Die Teppiche sind tief, das Licht gedämpft. Die Serviererin lächelt, als habe sie Geburtstag und als hätte sie sich immer schon einen so kurzen Rock gewünscht.Die beiden Geschäftsleute stehen im Hauptquartier von Tam, von "Táxi Aéro Marília", am Südrand des Flughafens Congonhas, an der Rua Monsenhor Antonio Pepe. In den firmeneigenen Hangars parken 7 Jets, 16 Turboprops und die Helikopter, die tagsüber ständig unterwegs sind und fast so schnell verkauft werden, wie man sie importiert. Rui de Aquino, der Geschäftsführer, will die Flotte demnächst verdoppeln.Aquino ist einer der beiden Männer am Tresen. Sein Gegenüber ist schlank, lange Haare, er trägt eine randlose Brille. Er spricht schnell, wirft die Hände in die Luft."Rui, dies ist nur der Vorgeschmack. Sie üben! Sie wollen nicht nur ein paar Banken überfallen. Oder ein paar Busse anzünden oder ein paar Polizisten abschlachten, sie üben für den Tag X", sagt der Mann mit der randlosen Brille.
Sein Name ist Sérgio de Nadai, der Sohn eines Schlachtermeisters, inzwischen einer der reichsten Männer von São Paulo, hat als Verkäufer von Lotterielosen angefangen. De Nadai ist Gründer und Inhaber einer Firma für Catering - 320.000 Portionen täglich an Krankenhäuser, Kantinen, Gefängnisse in ganz Brasilien, 3000 Mitarbeiter -, er besitzt Hotels, Hubschrauber, Plantagen. Jeder dritte Inhaftierte im Bundesstaat São Paulo kriegt seine täglichen Mahlzeiten aus einer der Großküchen von de Nadais "Alimentaçao com tecnologia": morgens und abends Brot und Malzkaffee, mittags Rindfleisch, Bohnen, Reis sowie Obst. Aber niemals Bananen - seit vor acht Jahren Gefangene einen zwölf Meter langen Fluchttunnel bauten und die Tunnelwände mit einem Gemisch aus Bananenbrei, Speichel und Sand verfestigten. Der Tunnel aus Bananenbrei - es ist eine der Lieblingsgeschichten de Nadais'.Man sieht ihm seine 53 Jahre nicht an. Jeden Morgen steht er um halb sieben auf, eine halbe Stunde Gymnastik, dann zehn Stunden Arbeit. Am Wochenende spielt er Fußball, Golf, geht zum Bogenschießen, macht Ausflüge mit seiner Harley und einem Gefolge schwerbewaffneter Bodyguards."Der Tag X", sagt Aquino, "von dem du da redest, was glaubst du, was sie wollen?""Sie wollen die Stadt", sagt de Nadai, "sie wollen das Kommando übernehmen."Und als Aquino nicht gleich antwortet, fügt er hinzu: "Sie wollen uns drankriegen, Rui."Gemeint sind die Unterweltler von São Paulo. Die Kuriere, Dealer, Mörder, Reifendiebe und Kidnapper der Stadt, die jungen Frauen, boshaften Greise, die muskelbepackten Männer, die Zwölfjährigen in kurzen Hosen, und nahezu alle sind bewaffnet. Sie sind Bewohner der schätzungsweise 2000 bis 2400 Favelas von São Paulo allein im Stadtgebiet, organisiert im "Primeiro Comando da Capital", dem "Ersten Hauptstadtkommando". Ein sperriger Name, alle sagen ohnehin nur PCC, wie bei einer Partei. Und stünde Elvira de Souza in diesem Moment in der Lounge, stünde sie neben de Nadai am Tresen, würde sie ihm sogar zustimmen. Si, Senhor, unser Aufstand ist politisch, wir glauben nicht an Wahlversprechen, an Almosen, wir wollen die Macht, ein besseres Leben.Elvira de Souzas Hütte in Jabaquara ist gegen die Straße mit einer übermannshohen Mauer und einem hundertfach geflickten Blechtor abgeriegelt. Oben am Tor ragen angeschweißte Harpunenspitzen gen Himmel.Eine Küche, in der es von Fliegen wimmelt. Schnaken, Flöhe, Nissen, Zecken, Tausendfüßer, Milben, Wanzen, alles, was surrt, bohrt, beißt, sticht, scheint versammelt. In drei Zimmern leben - die beiden Schwiegersöhne David und Augusto mitgezählt - 12 Menschen; sie kauern vorm Fernseher, abends sitzen sie auf Plastikstühlen im Hof, kiffen und trinken aus der Flasche Cachaça, den Zuckerrohrschnaps. An guten Tagen kauft David Whisky.Elvira ernährt ihre Familie mit kleineren Raubüberfällen, die sie von anderen ausführen lässt, und vor allem durch Drogenhandel, Heroin und Kokain. Gelegentlich fährt sie an die bolivianische Grenze, um Ware abzuholen. Meistens aber organisiert sie nur den Verkauf innerhalb São Paulos an die "Playboys", wie sie ihre Kunden nennt, junge Männer aus der Mittelschicht - Elvira braucht sie, verachtet sie, hasst sie.Sie ist gesprächig, aber sie erzählt nicht alles. Der Abstellraum neben ihrer Schlafkammer etwa ist bis unter das Dach gefüllt mit Laptops, Monitoren, Tastaturen, an die 200 Geräte, wahllos gestapelt und bereits von einer Staubschicht bedeckt. Daneben zwei Kartons voller Stecker und Kabel. Elvira hat keine Ahnung, wie man einen Computer anschließt.Sagen Sie, Elvira, woher stammen all diese Geräte?Die? Sie lacht. Die waren irgendwann hier. Einfach so! Sie schnippt mit den Fingern, hustet, krümmt sich.
In der Hierarchie des PCC nimmt Elvira eine mittlere Position ein. Sie verwaltet einen kleinen Teil dieser Favela, ihren Straßenzug: Die Gauner, Dealer, Kleingangster, die hier unterschlüpfen, zahlen keine Miete. Dafür sind sie ihr gegenüber rechenschafts- und abgabepflichtig. So wie auch Elvira de Souza umsonst wohnt, jedoch den beiden Bossen der Favela unterstellt ist.Elviras Mutter war weiß, ihr Vater schwarz. Er war ein Mistkerl, sagt sie, ein Schwein, wie alle Männer. Sie lacht.Gibt es auch anständige Männer, Elvira?Sie überlegt. Ja, aber die sitzen im Gefängnis, wie mein Fumega, mein Mann. Und weil er zu gut ist für diese Welt, wird er im Gefängnis bleiben, bis er verfault.Und weswegen sitzt er?Raubüberfall. Sie zuckt die Achseln.Elvira de Souza hat dunkle Locken, drei ihrer oberen Schneidezähne fehlen, sie hält die Hand vor den Mund, wenn sie lacht. Ein heiseres Lachen.Zehn Kinder hat Elvira de Souza in 18 Jahren geboren, zehn Kinder von sieben Männern - und eines ihrer Kinder, ein Junge, 14-jährig, wurde vor wenigen Wochen erschossen.Von Polizisten erschossen?Nein, nein, sagt sie. Es waren die Nachbarn, das habe ich inzwischen herausgefunden. Sie wohnen nur eine Straße weiter, wir grüßen uns sogar, sie wissen nicht, dass ich weiß, dass sie es waren.Ich habe ihn geliebt, sagt sie, ich werde ihn rächen. Schlimm nur, dass ich kein Foto habe, sagt sie, hustet und spuckt auf den Fußboden.2006 ist für São Paulo das Jahr der Gewalt. Nie zuvor hat es so heftige, anhaltende Schlachten gegeben zwischen Gangstern und Polizei, konzertierte Attacken, die die Riesenstadt über Tage lähmten. Busse brannten, Handgranaten wurden aus vorbeirasenden Autos geschleudert, maskierte Plündererbanden zogen durch die nächtlichen Straßen, auch innerhalb des PCC wurden Machtkämpfe ausgetragen. Schätzungsweise 180 Menschen starben bei diesen Kämpfen, die im Mai begannen, sich im ganzen Land ausweiteten und in den folgenden Monaten immer wieder aufflackerten.Die Unterwelt hat den Staat herausgefordert. Es ist höchste Zeit, finden die Leute in den Favelas.In São Paulo leben 10 Millionen Menschen, im Großraum sind es 18 bis 20 Millionen. Die Fläche der Stadt erstreckt sich über 1523 Quadratkilometer, das Siebeneinhalbfache von Stuttgart, doch leben hier 17-mal so viele Menschen, São Paulo ist die sechstgrößte Stadt der Welt, auf der Südhalbkugel ist sie die größte.Inmitten dieses Durcheinanders aus Reichtum und stinkendem Elend, aus glitzernden Türmen und grauen Hütten blies die Unterwelt zum Kampf, und die Oberschicht zog sich noch weiter zurück in die Séparées des Geldes, in solche abgedunkelten Flecken wie die VIP-Lounge des Tam, in der sich Geschäftsleute wie Aquino und de Nadai über die jüngsten Schießereien auf den Straßen unterhalten und über den Kauf eines neuen Hubschraubers, die "Bell 430", die größer ist als die "Bell 429", die Aquino schon hat.Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Hubschrauberlandeplätze als in São Paulo. Nirgends ein luxuriöseres Kaufhaus als das Daslu. Ein Kaufhaus, wo man am Portal wie ein heimkehrender Maharadscha empfangen wird, von Scharen livrierter Portiers umdienert, von Trauben bildhübscher Mädchen bedient und mit Champagner oder Blue-Label-Whisky bewirtet - und nur im Daslu gibt es unterm Dach einen Ballsaal und auf dem Dach einen Helikopterlandeplatz. Wer noch keinen Hubschrauber hat, kann einen im dritten Stock kaufen. Seidene Herrensocken kosten 180 Dollar.Und nebenan, man geht nur um die Ecke, liegt die Rua Coliseu. Am Beginn dieser Straße sollte man nicht weiter gehen, es sei denn, man hätte sich bei den Dealern per Handy angemeldet. Dann wird man abgeholt und als guter Kunde bewirtet, fast wie nebenan im Daslu.Seit je gehört der Überfall in São Paulo zur Folklore, zum Lebensrisiko, auch für Stewardessen, Busfahrer, Handwerker. Die Brasilianer, mit ihrem Talent zur Leichtigkeit, erzählten sich solche Geschichten als Partytalk: neulich, in der Tiefgarage, neulich, an einer Ampel.Das geraubte Geld nehmen die Gangster als eine Art Solidarzuschlag, als forcierte Umverteilung, zwischen den Elvira da Souzas und den Sérgio de Nadais' der Stadt.Im Oktober vergangenen Jahres lehnten bei einem Volksentscheid 64 Prozent der Wähler ein Verkaufsverbot für Schusswaffen ab. 17 Millionen Revolver, Gewehre, Pistolen, Maschinengewehre, schätzt die Polizei, gibt es in brasilianischen Haushalten. 36 000 Menschen werden im Jahr erschossen.Doch dann schien eine Besserung einzutreten: Nach einer Studie der Universität von São Paulo ging die Zahl der Morde zwischen 1999 und 2004 zurück. Dies war die Zeit, als die PCC erstarkte, die Hierarchie entwickelte, sich formierte.Dann kam das Jahr 2006. Es kam der Winter des Todes, wie die Journalisten die Monate von Mai bis Juli tauften. Und niemand hatte damit gerechnet, alle waren schockiert, kalt erwischt von dem Ausbruch der Gewalt.Bis auf einen.Der Professor lebt zurückgezogen in Villa Madalena, früher ein Künstlerviertel, jetzt großbürgerlich. Platanen, Bougainvillea, Eukalyptusbäume, und hinter den Hecken und Zäunen kann man die im Kolonialstil erbauten Villen erahnen.
Der Zaun vor der Villa von Walter Maierowitsch, mit Stahlplatten zusätzlich gesichert, misst 3,80 Meter in der Höhe, ebenso hoch ist das grüngestrichene Stahltor, dessen Torflügel oben scharf geschliffen sind. Sobald man klingelt, schlagen Hunde so an, als hätten sie Übung darin, Besucher binnen Sekunden zu zerfleischen.Es dauert fast 20 Minuten, bis die Männer am Tor alles geprüft, die Hunde gebändigt haben. Maierowitsch bittet in den Wintergarten, er erweist sich als eleganter Melancholiker, der trotz der Hitze eine grüne Seidenkrawatte trägt und beim Dienstmädchen Kaffee, Limonade und Petits Fours bestellt.Maierowitsch hat so ziemlich alles gemacht, was mit Verbrechensbekämpfung zu tun hat. Er lehrte Strafrecht in São Paulo, bildete Richter und Staatsanwälte aus, beriet den Präsidenten, gründete ein eigenes Institut, benannt nach Giovanni Falcone, dem sizilianischen Staatsanwalt, der von der Mafia ermordet wurde. Jahrelang warnte er vor den neuen Mafia-Organisationen, die sich formierten, das "Comando Vermelho", das "Rote Kommando", oder die "Amigos dos Amigos" in Rio, und das PCC in São Paulo.Maierowitsch warnte vor dem Tag X, da die Mafia losschlagen würde. Er hatte Ideen für die Reform der Gefängnisse, der Exekutive, der sozialen Rolle des Staates.Wie viel wurde umgesetzt von Ihren Vorschlägen, Professor Maierowitsch?Ach, schrecklich wenig, sagt er.Melancholisches Lächeln.Dann lehnt er sich zurück und erzählt.Der Aufstand der Unterwelt brauchte einen Anlass, und den gab ein ehemaliger Hausmeister. Der Mann war im Parlament zuständig für die Lautsprecheranlage und schnitt im Frühjahr dieses Jahres eine Diskussion mit. Zwei ranghohe Polizisten erläuterten, wie man mit dem PCC verfahren würde. Nämlich die inhaftierten Gangsterbosse in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegen, nach Presidente Venceslau, knapp 600 Kilometer entfernt von São Paulo, an der Grenze zum Bundesstaat Mato Grosso do Sul.Der Hausmeister brannte zwei CDs und verscherbelte sie für 200 Reais, 70 Euro. Die mit Mobiltelefonen ausgestatteten PCC-Bosse konnten sich in ihren Zellen die Vorschläge in aller Ruhe anhören, in einer Telefonkonferenz. Den ganzen Plan. Er gefiel ihnen nicht.Sie gaben das Zeichen zum Angriff.Aufstände in 73 Gefängnissen, sagt Maierowitsch. Angriffe, teilweise mit Maschinenpistolen, Sprengsätzen und Handgranaten, auf Polizeireviere. In einer zweiten Welle wurden die städtischen Linienbusse abgefackelt, wahrscheinlich von den Betreibern illegaler Buslinien, die bei dieser Gelegenheit ihre Konkurrenz eindämmen wollten. Heckenschützen lauerten Polizisten auf, wenn die abends in ihr Apartment gehen wollten. Fünf Tage, an denen die Stadt brannte, in Blut versank. 800 bis 1000 Anschläge, 180 Tote. Eine Demonstration, sagt Maierowitsch.Das PCC, sagt er, zeigte, was es kann. Das "Primeiro Comando da Capital" war aus einer Fußballmannschaft entstanden. Im Gefängnis von Taubaté, 120 Kilometer von São Paulo, durften die Häftlinge im Hof kicken. Acht Gefängnisinsassen bildeten jeweils eine Mannschaft, und eines dieser Teams holte regelmäßig den Knast-Cup, weil niemand es wagte, gegen sie zu gewinnen. Sie waren die gefährlichsten, schlauesten acht Gangster Brasiliens, damals, vor 13 Jahren.Und wenn sie als Fußballmannschaft schon so erfolgreich waren, fanden sie, warum dann nicht als Mafia?Die Schätzungen über die derzeitige Mitgliederzahl schwanken. Maierowitsch geht davon aus, dass das PCC immer noch expandiert, er vermutet, dass 90 Prozent aller in den Stadtgefängnissen von São Paulo Inhaftierten organisiert sind - denn nur so könnten sie im Gefängnis überleben. Im ganzen Bundesstaat, inklusive der in Freiheit lebenden kleinen und mittleren Gauner wie Elvira de Souza, könnten es weit über 100.000 PCC-Mitglieder sein.Das PCC, so Maierowitsch, bewegt im Monat über eine Million Reais. Jeder Gefangene, der vor seiner Inhaftierung Geld beiseite geschafft hat, zahlt 150 Reais im Monat, rund 50 Euro. Freigänger zahlen 200 Reais, Entlassene müssen 300 Reais entrichten, außerdem ein Zehntel ihrer sonstigen Einnahmen. Dafür kauft man eine Art Schutzbrief - so wie beim ADAC.Sobald jemand ins Gefängnis eingeliefert wird, kommen PCC-Leute und unterbreiten einen Vorschlag. Gleichzeitig nehmen Außenarbeiter Kontakt mit den Angehörigen auf. Wenn der Inhaftierte beitritt, kümmern sie sich um die Familie, besorgen Ärzte, unterstützen die Frauen, regeln Racheangelegenheiten. Halbwegs sicher kann man seine Strafe absitzen; nur aussteigen kann man nicht mehr. Das Gangstertum spielt Sozialstaat, sagt Maierowitsch, schlau in einem Land, in dem Politiker grundsätzlich unter Unfähigkeits- und Korruptionsverdacht stehen. Schätzungsweise 20 Prozent der Bevölkerung São Paulos leben in einer Favela.Möglicherweise ersonnen, sicherlich aber perfektioniert hat dieses System der jetzige Boss des PCC, ein Mann namens Marcos Willians Herbas Camacho, alias "Marcola", der etwa 2002 die Macht übernahm.Marcola ist erst 38 und schon eine Legende, Idol für jene romantischen Projektionen, die im Elend blühen. Maierowitsch malt eine Pyramide: Oben ist Marcola, ihm arbeiten etwa 80 Führungsoffiziere zu, die wiederum, hier muss man schätzen, etwa 4000 "Sergeanten" befehligen. Darunter ist die breite Basis: Sympathisanten, die aus Angst oder Respekt ihren Anteil abliefern. Über Marcola kursieren Rap-Songs, er soll in seiner Zelle jeden Tag ein Buch lesen, Nietzsche, Gesetzesbücher, Schopenhauer, ein Genie, sagen die Favela-Leute, ein Ché Guevara der Mörder.Elvira de Souza hat ihn einmal gesehen, behauptet sie. Eitel sei er. Aber wunderschön. Er liebt die Armen, sagt sie.Wer im PCC aufsteigen will, bekommt zwei Paten, die verantwortlich sind, ihr Leben lang. Bei Elvira waren es die Favela-Bosse von Jabaquara. Elvira wurde getauft, man goss ihr ein Glas Schnaps über den Kopf, sie bekam eine mit vielen Schnörkeln handgeschriebene Beitrittsurkunde, einen 16-Punkte-Kodex, in dem viel von Ehre die Rede ist.Als Erstes wurde Elvira die Miete des Hauses erlassen. Als Nächstes schickte man sie in eine sechswöchige Ausbildung zur Krankenschwester - spezialisiert auf Schusswunden, sie musste einem Arzt bei Operationen assistieren und Fiebernde pflegen. Im Gegenzug bekam ihr Mann Fumega eine bessere Zelle: mit etwa 20 Mann statt über 30, er durfte nachts in einem der Betten schlafen statt auf dem Fußboden. Ihre Kinder bekamen Schulbücher.Der Bürgerkrieg, sagt Maierowitsch, war eine Demonstration, ein Signal an die anderen Gangsterorganisationen: Seht her, was wir vermögen, wie viel Geld, wie viele Leute wir aufstellen. Das PCC, sagt Maierowitsch, hat jetzt ein politisches Image, es ist eine Marke wie Mercedes oder al-Qaida. Angst und Treue, so wird eine Organisation zusammengehalten. Man müsse in die Köpfe und Herzen der Leute, das Image lautet: Uns gehört die Stadt.Das bedeutet für die Leute aus der Oberschicht wie de Nadai, dass sie sich nicht mehr wie früher bewegen können, auch nicht in der Innenstadt, die in ihrem Randbezirk "Crackolandia" genannt wurde, Crack-Land. Dasselbe gilt für seine Frau Sandra, selbst wenn sie nur ins Daslu zum Einkaufen fliegt, auch für de Nadais Söhne Fernando und Fabricio. Wenn sie nicht den Hubschrauber nehmen, benutzen sie zwei silbergraue, mit Panzerglas gesicherte S-500-Mercedes. Sie würden gern mal ohne Bodyguards unterwegs sein, aber ihr Vater verbietet es.1993 wurde seine jüngere Schwester Mariangela überfallen, tagsüber und auf offener Straße. Die Kidnapper wollten wahrscheinlich nur ein sequestro relâmpago durchführen, eine Blitzentführung: Man fährt mit dem Opfer zum nächsten Geldautomaten, lässt es alles abheben, gibt ihm oder ihr einen Tritt, Ende. Die Männer zwangen Mariangela in ein Auto, rasten los, an einer Kreuzung krachte das Auto der Gangster in einen Lieferwagen. Die Kidnapper konnten fliehen, sie ließen Mariangela mit gebrochener Halswirbelsäule zurück.De Nadais Schwester lag 14 Monate lang auf der Intensivstation des Albert-Einstein-Krankenhauses. De Nadai ließ Ärzte aus den USA einfliegen, heuerte Dutzende von Privatdetektiven an, vergebens. Seine Schwester starb, die Entführer blieben unentdeckt.Er hat daraus gelernt, sagt er.Die Gewalt wirkt wie eine Zentrifuge. Sie trennt die Gesellschaft. Mega-Städte wie São Paulo zerfallen in Schichten - sie bilden eine Unterwelt aus, die eine eigene Gesellschaft bildet, das System des Staates imitiert, darüber die schmale Stadt der Mittelschicht, die sich mit allen Kräften abschottet, darüber die Schicht der Reichen und der Mega-Reichen. Folgerichtig, dass die Millionäre in die nächsthöhere Ebene ausweichen, in den Hubschrauber steigen.Gegenüber vom Daslu, auf dem Westufer des Rio Pinheiros, im Stadtteil Cidade Jardim, der Gartenstadt, gab es früher einen kleinen Berg. Jetzt ist dort ein Loch. Und in diesem gewaltigen Loch krabbeln Heerscharen gelbbehelmter Bauarbeiter herum und lassen von Tagesanbruch bis zum späten Abend tonnenweise Beton und Armierung darin verschwinden. Nach dem Willen der Investoren werden es umgerechnet 640 Millionen Euro sein, die hier versenkt sein werden. Die teuerste Immobilienentwicklung Brasiliens soll es sein, eine Trutzburg der Oberschicht.In Cidade Jardim entsteht ein neues São Paulo, ein São Paulo der vierten Dimension, das jede Berührung mit dem Rest der Stadt erspart: ein Wohn-, Einkaufs- und Arbeitskomplex auf 135.000 Quadratmetern, mit neun Wohn- und Bürotürmen, umgeben von Palmen und Parks, ausgestattet mit Einkaufsmalls, acht Kinos und dem größten Sportcenter Südamerikas. Nur mit einem Jahreseinkommen ab 150.000 Euro darf man eine der Wohnungen kaufen, die kleinste misst 240, die größte 780 Quadratmeter. Das Areal ist der Versuch, der Allmacht des PCC zu entkommen, jede Begegnung mit den Elvira de Souzas von vornherein zu vermeiden.Elvira hat von dem Projekt noch nichts gehört; aber sie würde es wahrscheinlich als Erfolg verbuchen - die Reichen haben Angst, gut so, sollen sie. Sie hat inzwischen ihren Schwiegersohn David gebeten, ihr eine neue und handliche Waffe zu besorgen. Sie selbst wird bei den Bossen der Favela durchblicken lassen, was sie vorhat. Sie wird erklären, dass sie ein Recht auf ihre Rache habe. David bringt ihr eines Abends einen Indumil-Revolver Modell "Cassidy" mit langem Lauf.Meint sie es wirklich ernst?Doch noch am selben Abend muss Elvira de Souza erkennen, dass sie die PCC unterschätzt hat. Die zwei Bosse, die die Favela regieren, ihre Paten und damit ihre Vorgesetzten, statten ihr einen Besuch ab.Die beiden Männer, wird Elvira später erzählen, blieben nicht lange, wurden nicht laut, waren freundlich. Doch nebenbei erklärten sie ihr, sie wünschten keine Alleingänge und im Viertel keine Unruhe.Elvira de Souza verstand. Dies ist die neue Zeit. Sie wird also ihren Nachbarn nicht töten. Aber vielleicht später, der Krieg ist nicht zu Ende.
STICHWAHL IN BRASILIEN
Lula und die 40 Räuber
Von Jens Glüsing, Rio de Janeiro
Als haushoher Favorit ging Amtsinhaber Lula in die Präsidentenwahl in Brasilien. Doch der charismatische Sozialist bekam die Quittung für die zahlreichen Korruptionsaffären in seiner Regierung. Nun muss der einstige sozialistische Hoffnungsträger in die Stichwahl.
Rio de Janeiro - Die größte Demokratie Lateinamerikas war auf einen geruhsamen Fernsehabend eingestellt: Volksliebling Luis Inacio Lula da Silva werde mit einer absoluten Mehrheit für weitere vier Jahre als Präsident bestätigt, hatten die meisten Umfrageinstitute prophezeit, eine Stichwahl galt als so gut wie ausgeschlossen.
AP
Lula: Schlammschlacht vor der Stichwahl
Doch die Auszählung wurde zum Wahlkrimi. Bis nach Mitternacht dauerte die Zitterpartie, dann stand fest: Lula hat die absolute Mehrheit knapp verfehlt, er muss sich in vier Wochen dem Sozialdemokraten Geraldo Alckmin in der Stichwahl stellen. Lula hat 48,6 Prozent erzielt, Alckmin wählten 41,63 Prozent.
Ein leerer Stuhl und ein Berg von Geld sind schuld, dass Lula seine Wiederwahl im ersten Anlauf verfehlte: Der leere Stuhl, mit einem Namensschild des Präsidenten versehen, symbolisierte seine Abwesenheit bei der letzten und wichtigsten Fernsehdebatte, nur drei Tage vor dem Wahltag. Lula fürchtete offenbar die Attacken seiner Widersacher wegen der zahlreichen Korruptionsaffären in seiner Regierung und drückte sich deshalb um die TV-Diskussion. Das haben ihm viele Anhänger nicht verziehen.
Der Batzen Geld - 1,7 Millionen Real (rund 600.000 Euro) in kleinen Scheinen - steht für den vorerst letzten Skandal in der Umgebung des Präsidenten: Funktionäre der Regierungspartei PT und Mitarbeiter des Staatschefs wollten mit diesem Geld ein Dossier mit offenbar gefälschten Anschuldigungen gegen wichtige Oppositionspolitiker kaufen. Ein Informant hatte Videoaufnahmen der beschlagnahmten Geldscheine wenige Tage vor der Wahl an die Presse lanciert.
Der Streit um den Mammon illustriert den moralischen Niedergang dieser Regierung: Bei seinem Amtsantritt vor vier Jahren hatte Lula versprochen, er würde den allgegenwärtigen Korruptionssumpf in Brasilien trockenlegen. Im Kongress säßen "300 Gauner" hatte er damals getönt.
Der blasse Ex-Gouverneur ist der eigentliche Sieger
Jetzt stellt sich heraus, dass sich vor allem die Regierungspartei PT schmutziger Tricks bedient hat, um sich die Mehrheit im Parlament zu sichern. Brasilien werde von "Ali Baba und den 40 Räubern" regiert, attackierte Oppositionskandidat Geraldo Alckmin von den Sozialdemokraten Volksliebling Lula im Wahlkampf.
Der blasse Ex-Gouverneur von Sao Paulo ist der eigentliche Sieger der ersten Runde. Kaum jemand hatte ihm zugetraut, dass er den charismatischen Lula in eine Stichwahl zwingen könnte. Als "Kandidat des Chuchu" wurde Alckmin im Wahlkampf verspottet: Chuchu (sprich: Schuschu) ist ein fade schmeckendes grünes Gemüse in Birnenform, das in Restaurants als billige Sättigungsbeilage gereicht wird.
Bis vor zwei Wochen betrug der Abstand zwischen Lula und Alckmin in den Umfragen noch rund 20 Prozent. Jetzt ist die Distanz auf rund sieben Punkte zusammengeschmolzen, Lula hat die Aura des Unbezwingbaren verloren. "Seine Majestät der Bärtige", wie die sozialistische Präsidentschaftskandidatin Heloisa Helena ihn nur nennt, ist entzaubert: Obwohl er als Favorit in die zweite Runde geht, ist sein Sieg längst nicht sicher. Alckmin will Lula mit einer "Allianz der Moral" aus dem Amt jagen, er zielt auf Lulas größte Schwäche: Die weit verbreitete Korruption.
Gefahr droht dem Präsidenten vor allem von links: Mit seiner stramm orthodoxen Wirtschaftspolitik und der ruchlosen Korruptionskungelei hat er viele einstige Anhänger verprellt, als Präsident ist der einstige Gewerkschaftsführer immer weiter nach rechts gerückt. Viele enttäuschte ehemalige PT-Anhänger haben deshalb für Heloisa Helena gestimmt, eine ehemalige Lula-Getreue. Sie war vor vier Jahren aus der PT ausgeschlossen worden, weil sie Lulas liberalen Wirtschaftskurs attackiert hatte.
Jetzt muss Lula einen politischen Spagat vollbringen: Er will die Abtrünnigen zurückgewinnen, ohne seine Wähler in der Mittelschicht zu verprellen. Heloisa Helena hat durchblicken lassen, dass sie keine Wahlempfehlung aussprechen wird, der Macchiavellist Lula hat die Idealistin zu sehr verbittert.
Im Wahlkampf droht deshalb eine Schlammschlacht: Alckmin wird versuchen, Lula mit neuen Korruptionsvorwürfen zu bombardieren; der angeschlagene Volkstribun wird sich mit neuen Attacken gegen die "undankbare Elite" zur Wehr setzen. Der "Vater der Armen", wie er sich gern tituliert, wird wohl noch unverhüllter seinem Hang zum Messianismus frönen: Der einstige Gewerkschaftsführer fühlt sich von der "Elite" verraten, er sieht sich als Opfer einer Kampagne der Medien. Immer öfter bemüht er religiöse Metaphern, jüngst verglich er sich sogar mit Jesus.
Tatsächlich zeugt das Wahlergebnis von einer zunehmenden politischen und regionalen Kluft zwischen Arm und Reich: Im armen Norden und Nordosten hat Lula die absolute Mehrheit errungen, in einigen Bundesstaaten sogar über 70 Prozent. Die Mittelschicht im höher entwickelten, industrialisierten Südosten und Süden hat dagegen weitgehend für Alckmin gestimmt. "Das Land ist in der Mitte zerrissen", schreibt die Kolumnistin Tereza Cruvinel in der Zeitung "O Globo". In Brasilien bestätigt sich damit ein Trend, der sich auch bei den Wahlen in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern abzeichnet: Der Kontinent zerfällt nicht in Linke und Rechte, sondern in Arme und Reiche.
Von Jens Glüsing, Rio de Janeiro
Als haushoher Favorit ging Amtsinhaber Lula in die Präsidentenwahl in Brasilien. Doch der charismatische Sozialist bekam die Quittung für die zahlreichen Korruptionsaffären in seiner Regierung. Nun muss der einstige sozialistische Hoffnungsträger in die Stichwahl.
Rio de Janeiro - Die größte Demokratie Lateinamerikas war auf einen geruhsamen Fernsehabend eingestellt: Volksliebling Luis Inacio Lula da Silva werde mit einer absoluten Mehrheit für weitere vier Jahre als Präsident bestätigt, hatten die meisten Umfrageinstitute prophezeit, eine Stichwahl galt als so gut wie ausgeschlossen.
AP
Lula: Schlammschlacht vor der Stichwahl
Doch die Auszählung wurde zum Wahlkrimi. Bis nach Mitternacht dauerte die Zitterpartie, dann stand fest: Lula hat die absolute Mehrheit knapp verfehlt, er muss sich in vier Wochen dem Sozialdemokraten Geraldo Alckmin in der Stichwahl stellen. Lula hat 48,6 Prozent erzielt, Alckmin wählten 41,63 Prozent.
Ein leerer Stuhl und ein Berg von Geld sind schuld, dass Lula seine Wiederwahl im ersten Anlauf verfehlte: Der leere Stuhl, mit einem Namensschild des Präsidenten versehen, symbolisierte seine Abwesenheit bei der letzten und wichtigsten Fernsehdebatte, nur drei Tage vor dem Wahltag. Lula fürchtete offenbar die Attacken seiner Widersacher wegen der zahlreichen Korruptionsaffären in seiner Regierung und drückte sich deshalb um die TV-Diskussion. Das haben ihm viele Anhänger nicht verziehen.
Der Batzen Geld - 1,7 Millionen Real (rund 600.000 Euro) in kleinen Scheinen - steht für den vorerst letzten Skandal in der Umgebung des Präsidenten: Funktionäre der Regierungspartei PT und Mitarbeiter des Staatschefs wollten mit diesem Geld ein Dossier mit offenbar gefälschten Anschuldigungen gegen wichtige Oppositionspolitiker kaufen. Ein Informant hatte Videoaufnahmen der beschlagnahmten Geldscheine wenige Tage vor der Wahl an die Presse lanciert.
Der Streit um den Mammon illustriert den moralischen Niedergang dieser Regierung: Bei seinem Amtsantritt vor vier Jahren hatte Lula versprochen, er würde den allgegenwärtigen Korruptionssumpf in Brasilien trockenlegen. Im Kongress säßen "300 Gauner" hatte er damals getönt.
Der blasse Ex-Gouverneur ist der eigentliche Sieger
Jetzt stellt sich heraus, dass sich vor allem die Regierungspartei PT schmutziger Tricks bedient hat, um sich die Mehrheit im Parlament zu sichern. Brasilien werde von "Ali Baba und den 40 Räubern" regiert, attackierte Oppositionskandidat Geraldo Alckmin von den Sozialdemokraten Volksliebling Lula im Wahlkampf.
Der blasse Ex-Gouverneur von Sao Paulo ist der eigentliche Sieger der ersten Runde. Kaum jemand hatte ihm zugetraut, dass er den charismatischen Lula in eine Stichwahl zwingen könnte. Als "Kandidat des Chuchu" wurde Alckmin im Wahlkampf verspottet: Chuchu (sprich: Schuschu) ist ein fade schmeckendes grünes Gemüse in Birnenform, das in Restaurants als billige Sättigungsbeilage gereicht wird.
Bis vor zwei Wochen betrug der Abstand zwischen Lula und Alckmin in den Umfragen noch rund 20 Prozent. Jetzt ist die Distanz auf rund sieben Punkte zusammengeschmolzen, Lula hat die Aura des Unbezwingbaren verloren. "Seine Majestät der Bärtige", wie die sozialistische Präsidentschaftskandidatin Heloisa Helena ihn nur nennt, ist entzaubert: Obwohl er als Favorit in die zweite Runde geht, ist sein Sieg längst nicht sicher. Alckmin will Lula mit einer "Allianz der Moral" aus dem Amt jagen, er zielt auf Lulas größte Schwäche: Die weit verbreitete Korruption.
Gefahr droht dem Präsidenten vor allem von links: Mit seiner stramm orthodoxen Wirtschaftspolitik und der ruchlosen Korruptionskungelei hat er viele einstige Anhänger verprellt, als Präsident ist der einstige Gewerkschaftsführer immer weiter nach rechts gerückt. Viele enttäuschte ehemalige PT-Anhänger haben deshalb für Heloisa Helena gestimmt, eine ehemalige Lula-Getreue. Sie war vor vier Jahren aus der PT ausgeschlossen worden, weil sie Lulas liberalen Wirtschaftskurs attackiert hatte.
Jetzt muss Lula einen politischen Spagat vollbringen: Er will die Abtrünnigen zurückgewinnen, ohne seine Wähler in der Mittelschicht zu verprellen. Heloisa Helena hat durchblicken lassen, dass sie keine Wahlempfehlung aussprechen wird, der Macchiavellist Lula hat die Idealistin zu sehr verbittert.
Im Wahlkampf droht deshalb eine Schlammschlacht: Alckmin wird versuchen, Lula mit neuen Korruptionsvorwürfen zu bombardieren; der angeschlagene Volkstribun wird sich mit neuen Attacken gegen die "undankbare Elite" zur Wehr setzen. Der "Vater der Armen", wie er sich gern tituliert, wird wohl noch unverhüllter seinem Hang zum Messianismus frönen: Der einstige Gewerkschaftsführer fühlt sich von der "Elite" verraten, er sieht sich als Opfer einer Kampagne der Medien. Immer öfter bemüht er religiöse Metaphern, jüngst verglich er sich sogar mit Jesus.
Tatsächlich zeugt das Wahlergebnis von einer zunehmenden politischen und regionalen Kluft zwischen Arm und Reich: Im armen Norden und Nordosten hat Lula die absolute Mehrheit errungen, in einigen Bundesstaaten sogar über 70 Prozent. Die Mittelschicht im höher entwickelten, industrialisierten Südosten und Süden hat dagegen weitgehend für Alckmin gestimmt. "Das Land ist in der Mitte zerrissen", schreibt die Kolumnistin Tereza Cruvinel in der Zeitung "O Globo". In Brasilien bestätigt sich damit ein Trend, der sich auch bei den Wahlen in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern abzeichnet: Der Kontinent zerfällt nicht in Linke und Rechte, sondern in Arme und Reiche.
Sunday, September 24, 2006
Ski fahren in Südamerika...
Was für eine lustige Sache!
Schließlich haben die Südamerikaner ja meistens noch nie Schnee live erlebt...und dann Ski fahren?
So war es recht interessant das die Piste hauptsächlich von Leuten befahren wurde die entweder
a) keinen Schnee kennen....(wenigstens fällt man weich)
oder
b)Profis sind (Trainieren hier muss günstiger sein)
ach ja...und
c) ich und ca eine Handvoll anderer die ganz anständig runterkommen ohne sich und ander dabei grob zu gefährden.
Oder übertragen die die Verkehrsregeln auf den Wintersport???? Dann war ich in Lebensgefahr *g*
Ein andere wesentlicher Unterschied zu den Alpen ist mal einfach die Höhe.
Hier ist man eigentlich immer auf über 3000 Metern unterwegs was die Sauerstoffaufnahme natürlich recht erschwert.
Mir hats auf jeden Fall richtig Bock gemacht!!!
Und der Rückflug über die Anden war einfach Atemberaubend...deswegen auch 2 Bilder auf dem Flugzeug.
PS. Nachts in SP landen ist auch echt ein Knaller...Lichter soweit das Auge reicht.
Schließlich haben die Südamerikaner ja meistens noch nie Schnee live erlebt...und dann Ski fahren?
So war es recht interessant das die Piste hauptsächlich von Leuten befahren wurde die entweder
a) keinen Schnee kennen....(wenigstens fällt man weich)
oder
b)Profis sind (Trainieren hier muss günstiger sein)
ach ja...und
c) ich und ca eine Handvoll anderer die ganz anständig runterkommen ohne sich und ander dabei grob zu gefährden.
Oder übertragen die die Verkehrsregeln auf den Wintersport???? Dann war ich in Lebensgefahr *g*
Ein andere wesentlicher Unterschied zu den Alpen ist mal einfach die Höhe.
Hier ist man eigentlich immer auf über 3000 Metern unterwegs was die Sauerstoffaufnahme natürlich recht erschwert.
Mir hats auf jeden Fall richtig Bock gemacht!!!
Und der Rückflug über die Anden war einfach Atemberaubend...deswegen auch 2 Bilder auf dem Flugzeug.
PS. Nachts in SP landen ist auch echt ein Knaller...Lichter soweit das Auge reicht.
Monday, September 18, 2006
El Tenente
Aber in Chile gibt es noch viel mehr zu sehen!
Z. B. die weltgrösste subterrane Kupfemine in Betrieb...
Sehr beeindruckend!
Daneben ist eine alte Siedlung die wohl bald in Weltkulturerbe aufgenommen wird. Hier lebten in recht luftiger Höhe etwa 15.000 Menschen von der Mine.
Allerdings mussten alle in den 70ern in Tal ziehen da die Produktion began die Luft zu verschmutzen!
Jetzt ist es also quasi eine Geisterstadt die man besuchen kann (und dafür steht sogar die Kupferschmelze still bis 16:00 Uhr...).
Besonders schön fand ich meine Ausrüstung mit toller Helmlampe. Steht mir doch oder?
Na ja...der 150 Meter Kristall war auch ganz nett anzusehen der im Herzen des Berges entdeckt wurde.
Santiago de Chile
Hallo hallo hallo,
ich habe mal etwas Zeit in Chile verbracht und bringe nun endlich mal einige Eindrücke ins Netz...
Santiago ist eine recht gut organisierte Stadt die vor allem durch diese ewig hohen Berge fasziniert!
Wobei die Stadt selber sehr eben ist...wirklich interessant zu sehen.
Auf den umliegenden Bergen lag Schnee was insbesondere bei Abendröte ein wunderschönes Bild abgab.
ich habe mal etwas Zeit in Chile verbracht und bringe nun endlich mal einige Eindrücke ins Netz...
Santiago ist eine recht gut organisierte Stadt die vor allem durch diese ewig hohen Berge fasziniert!
Wobei die Stadt selber sehr eben ist...wirklich interessant zu sehen.
Auf den umliegenden Bergen lag Schnee was insbesondere bei Abendröte ein wunderschönes Bild abgab.
Tuesday, September 05, 2006
Hopi Hari...
Ich bin dann mal in so einen Amüsierpark gegangen mit einigen lustigen Sachen.
War natürlich komplett überfüllt am Sonntag und die etwa 5 guten rides waren dementsprechend überfüllt.
Aber wie das so ist in Brasilien gibt es immer einen Weg!
Meistens hat der mit Geld zu tun...Der Trick war man konnte so nen VIP Pass kaufen für 4 rides und dann konnte man bis nach gaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanz vorne durchgehen und bekam sofort seinen Platz zugewiesen.
In Deutschland undenkbar und die Brasis die ja eh in der Schlange stehen oft üben, meistens im Strassenverkehr, haben sich noch nicht mal aufgeregt!!!
Bei uns hätte es TOTE gegeben...
Schön hier wenn man weiß wies läuft HEHEHEHE
War natürlich komplett überfüllt am Sonntag und die etwa 5 guten rides waren dementsprechend überfüllt.
Aber wie das so ist in Brasilien gibt es immer einen Weg!
Meistens hat der mit Geld zu tun...Der Trick war man konnte so nen VIP Pass kaufen für 4 rides und dann konnte man bis nach gaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanz vorne durchgehen und bekam sofort seinen Platz zugewiesen.
In Deutschland undenkbar und die Brasis die ja eh in der Schlange stehen oft üben, meistens im Strassenverkehr, haben sich noch nicht mal aufgeregt!!!
Bei uns hätte es TOTE gegeben...
Schön hier wenn man weiß wies läuft HEHEHEHE