Kili no Brasil

Friday, October 06, 2006

Das Gewaltlabor

Von Ralf Hoppe
Die Unterwelt greift nach der Macht, die Reichen von São Paulo verbarrikadieren sich in Luxusburgen und fühlen sich nur in Hubschraubern sicher - die größte Stadt auf der Südhalbkugel der Erde gibt eine Vorahnung von der Zukunft der Mega-Citys.
Elvira de Souza will ihren Nachbarn töten. Aber sie darf nichts überstürzen, sie muss nachdenken. Sie redet so darüber, als sei es nichts Besonderes.Meint sie es ernst?Und während Elvira de Souza in der hintersten Kammer ihres verschachtelten, nach Kot, Katzenpisse und Bohneneintopf riechenden Hauses sitzt, in der Favela von Jabaquara, während sie auf einer Matratze hockt und raucht, stehen fünf Autominuten entfernt, auf der anderen Seite der Avenida Pedro Bueno, zwei Herren an einem Tresen. Sie stehen in einer VIP-Lounge, Chrom, Glas, Leder. Die Teppiche sind tief, das Licht gedämpft. Die Serviererin lächelt, als habe sie Geburtstag und als hätte sie sich immer schon einen so kurzen Rock gewünscht.Die beiden Geschäftsleute stehen im Hauptquartier von Tam, von "Táxi Aéro Marília", am Südrand des Flughafens Congonhas, an der Rua Monsenhor Antonio Pepe. In den firmeneigenen Hangars parken 7 Jets, 16 Turboprops und die Helikopter, die tagsüber ständig unterwegs sind und fast so schnell verkauft werden, wie man sie importiert. Rui de Aquino, der Geschäftsführer, will die Flotte demnächst verdoppeln.Aquino ist einer der beiden Männer am Tresen. Sein Gegenüber ist schlank, lange Haare, er trägt eine randlose Brille. Er spricht schnell, wirft die Hände in die Luft."Rui, dies ist nur der Vorgeschmack. Sie üben! Sie wollen nicht nur ein paar Banken überfallen. Oder ein paar Busse anzünden oder ein paar Polizisten abschlachten, sie üben für den Tag X", sagt der Mann mit der randlosen Brille.
Sein Name ist Sérgio de Nadai, der Sohn eines Schlachtermeisters, inzwischen einer der reichsten Männer von São Paulo, hat als Verkäufer von Lotterielosen angefangen. De Nadai ist Gründer und Inhaber einer Firma für Catering - 320.000 Portionen täglich an Krankenhäuser, Kantinen, Gefängnisse in ganz Brasilien, 3000 Mitarbeiter -, er besitzt Hotels, Hubschrauber, Plantagen. Jeder dritte Inhaftierte im Bundesstaat São Paulo kriegt seine täglichen Mahlzeiten aus einer der Großküchen von de Nadais "Alimentaçao com tecnologia": morgens und abends Brot und Malzkaffee, mittags Rindfleisch, Bohnen, Reis sowie Obst. Aber niemals Bananen - seit vor acht Jahren Gefangene einen zwölf Meter langen Fluchttunnel bauten und die Tunnelwände mit einem Gemisch aus Bananenbrei, Speichel und Sand verfestigten. Der Tunnel aus Bananenbrei - es ist eine der Lieblingsgeschichten de Nadais'.Man sieht ihm seine 53 Jahre nicht an. Jeden Morgen steht er um halb sieben auf, eine halbe Stunde Gymnastik, dann zehn Stunden Arbeit. Am Wochenende spielt er Fußball, Golf, geht zum Bogenschießen, macht Ausflüge mit seiner Harley und einem Gefolge schwerbewaffneter Bodyguards."Der Tag X", sagt Aquino, "von dem du da redest, was glaubst du, was sie wollen?""Sie wollen die Stadt", sagt de Nadai, "sie wollen das Kommando übernehmen."Und als Aquino nicht gleich antwortet, fügt er hinzu: "Sie wollen uns drankriegen, Rui."Gemeint sind die Unterweltler von São Paulo. Die Kuriere, Dealer, Mörder, Reifendiebe und Kidnapper der Stadt, die jungen Frauen, boshaften Greise, die muskelbepackten Männer, die Zwölfjährigen in kurzen Hosen, und nahezu alle sind bewaffnet. Sie sind Bewohner der schätzungsweise 2000 bis 2400 Favelas von São Paulo allein im Stadtgebiet, organisiert im "Primeiro Comando da Capital", dem "Ersten Hauptstadtkommando". Ein sperriger Name, alle sagen ohnehin nur PCC, wie bei einer Partei. Und stünde Elvira de Souza in diesem Moment in der Lounge, stünde sie neben de Nadai am Tresen, würde sie ihm sogar zustimmen. Si, Senhor, unser Aufstand ist politisch, wir glauben nicht an Wahlversprechen, an Almosen, wir wollen die Macht, ein besseres Leben.Elvira de Souzas Hütte in Jabaquara ist gegen die Straße mit einer übermannshohen Mauer und einem hundertfach geflickten Blechtor abgeriegelt. Oben am Tor ragen angeschweißte Harpunenspitzen gen Himmel.Eine Küche, in der es von Fliegen wimmelt. Schnaken, Flöhe, Nissen, Zecken, Tausendfüßer, Milben, Wanzen, alles, was surrt, bohrt, beißt, sticht, scheint versammelt. In drei Zimmern leben - die beiden Schwiegersöhne David und Augusto mitgezählt - 12 Menschen; sie kauern vorm Fernseher, abends sitzen sie auf Plastikstühlen im Hof, kiffen und trinken aus der Flasche Cachaça, den Zuckerrohrschnaps. An guten Tagen kauft David Whisky.Elvira ernährt ihre Familie mit kleineren Raubüberfällen, die sie von anderen ausführen lässt, und vor allem durch Drogenhandel, Heroin und Kokain. Gelegentlich fährt sie an die bolivianische Grenze, um Ware abzuholen. Meistens aber organisiert sie nur den Verkauf innerhalb São Paulos an die "Playboys", wie sie ihre Kunden nennt, junge Männer aus der Mittelschicht - Elvira braucht sie, verachtet sie, hasst sie.Sie ist gesprächig, aber sie erzählt nicht alles. Der Abstellraum neben ihrer Schlafkammer etwa ist bis unter das Dach gefüllt mit Laptops, Monitoren, Tastaturen, an die 200 Geräte, wahllos gestapelt und bereits von einer Staubschicht bedeckt. Daneben zwei Kartons voller Stecker und Kabel. Elvira hat keine Ahnung, wie man einen Computer anschließt.Sagen Sie, Elvira, woher stammen all diese Geräte?Die? Sie lacht. Die waren irgendwann hier. Einfach so! Sie schnippt mit den Fingern, hustet, krümmt sich.

In der Hierarchie des PCC nimmt Elvira eine mittlere Position ein. Sie verwaltet einen kleinen Teil dieser Favela, ihren Straßenzug: Die Gauner, Dealer, Kleingangster, die hier unterschlüpfen, zahlen keine Miete. Dafür sind sie ihr gegenüber rechenschafts- und abgabepflichtig. So wie auch Elvira de Souza umsonst wohnt, jedoch den beiden Bossen der Favela unterstellt ist.Elviras Mutter war weiß, ihr Vater schwarz. Er war ein Mistkerl, sagt sie, ein Schwein, wie alle Männer. Sie lacht.Gibt es auch anständige Männer, Elvira?Sie überlegt. Ja, aber die sitzen im Gefängnis, wie mein Fumega, mein Mann. Und weil er zu gut ist für diese Welt, wird er im Gefängnis bleiben, bis er verfault.Und weswegen sitzt er?Raubüberfall. Sie zuckt die Achseln.Elvira de Souza hat dunkle Locken, drei ihrer oberen Schneidezähne fehlen, sie hält die Hand vor den Mund, wenn sie lacht. Ein heiseres Lachen.Zehn Kinder hat Elvira de Souza in 18 Jahren geboren, zehn Kinder von sieben Männern - und eines ihrer Kinder, ein Junge, 14-jährig, wurde vor wenigen Wochen erschossen.Von Polizisten erschossen?Nein, nein, sagt sie. Es waren die Nachbarn, das habe ich inzwischen herausgefunden. Sie wohnen nur eine Straße weiter, wir grüßen uns sogar, sie wissen nicht, dass ich weiß, dass sie es waren.Ich habe ihn geliebt, sagt sie, ich werde ihn rächen. Schlimm nur, dass ich kein Foto habe, sagt sie, hustet und spuckt auf den Fußboden.2006 ist für São Paulo das Jahr der Gewalt. Nie zuvor hat es so heftige, anhaltende Schlachten gegeben zwischen Gangstern und Polizei, konzertierte Attacken, die die Riesenstadt über Tage lähmten. Busse brannten, Handgranaten wurden aus vorbeirasenden Autos geschleudert, maskierte Plündererbanden zogen durch die nächtlichen Straßen, auch innerhalb des PCC wurden Machtkämpfe ausgetragen. Schätzungsweise 180 Menschen starben bei diesen Kämpfen, die im Mai begannen, sich im ganzen Land ausweiteten und in den folgenden Monaten immer wieder aufflackerten.Die Unterwelt hat den Staat herausgefordert. Es ist höchste Zeit, finden die Leute in den Favelas.In São Paulo leben 10 Millionen Menschen, im Großraum sind es 18 bis 20 Millionen. Die Fläche der Stadt erstreckt sich über 1523 Quadratkilometer, das Siebeneinhalbfache von Stuttgart, doch leben hier 17-mal so viele Menschen, São Paulo ist die sechstgrößte Stadt der Welt, auf der Südhalbkugel ist sie die größte.Inmitten dieses Durcheinanders aus Reichtum und stinkendem Elend, aus glitzernden Türmen und grauen Hütten blies die Unterwelt zum Kampf, und die Oberschicht zog sich noch weiter zurück in die Séparées des Geldes, in solche abgedunkelten Flecken wie die VIP-Lounge des Tam, in der sich Geschäftsleute wie Aquino und de Nadai über die jüngsten Schießereien auf den Straßen unterhalten und über den Kauf eines neuen Hubschraubers, die "Bell 430", die größer ist als die "Bell 429", die Aquino schon hat.Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Hubschrauberlandeplätze als in São Paulo. Nirgends ein luxuriöseres Kaufhaus als das Daslu. Ein Kaufhaus, wo man am Portal wie ein heimkehrender Maharadscha empfangen wird, von Scharen livrierter Portiers umdienert, von Trauben bildhübscher Mädchen bedient und mit Champagner oder Blue-Label-Whisky bewirtet - und nur im Daslu gibt es unterm Dach einen Ballsaal und auf dem Dach einen Helikopterlandeplatz. Wer noch keinen Hubschrauber hat, kann einen im dritten Stock kaufen. Seidene Herrensocken kosten 180 Dollar.Und nebenan, man geht nur um die Ecke, liegt die Rua Coliseu. Am Beginn dieser Straße sollte man nicht weiter gehen, es sei denn, man hätte sich bei den Dealern per Handy angemeldet. Dann wird man abgeholt und als guter Kunde bewirtet, fast wie nebenan im Daslu.Seit je gehört der Überfall in São Paulo zur Folklore, zum Lebensrisiko, auch für Stewardessen, Busfahrer, Handwerker. Die Brasilianer, mit ihrem Talent zur Leichtigkeit, erzählten sich solche Geschichten als Partytalk: neulich, in der Tiefgarage, neulich, an einer Ampel.Das geraubte Geld nehmen die Gangster als eine Art Solidarzuschlag, als forcierte Umverteilung, zwischen den Elvira da Souzas und den Sérgio de Nadais' der Stadt.Im Oktober vergangenen Jahres lehnten bei einem Volksentscheid 64 Prozent der Wähler ein Verkaufsverbot für Schusswaffen ab. 17 Millionen Revolver, Gewehre, Pistolen, Maschinengewehre, schätzt die Polizei, gibt es in brasilianischen Haushalten. 36 000 Menschen werden im Jahr erschossen.Doch dann schien eine Besserung einzutreten: Nach einer Studie der Universität von São Paulo ging die Zahl der Morde zwischen 1999 und 2004 zurück. Dies war die Zeit, als die PCC erstarkte, die Hierarchie entwickelte, sich formierte.Dann kam das Jahr 2006. Es kam der Winter des Todes, wie die Journalisten die Monate von Mai bis Juli tauften. Und niemand hatte damit gerechnet, alle waren schockiert, kalt erwischt von dem Ausbruch der Gewalt.Bis auf einen.Der Professor lebt zurückgezogen in Villa Madalena, früher ein Künstlerviertel, jetzt großbürgerlich. Platanen, Bougainvillea, Eukalyptusbäume, und hinter den Hecken und Zäunen kann man die im Kolonialstil erbauten Villen erahnen.

Der Zaun vor der Villa von Walter Maierowitsch, mit Stahlplatten zusätzlich gesichert, misst 3,80 Meter in der Höhe, ebenso hoch ist das grüngestrichene Stahltor, dessen Torflügel oben scharf geschliffen sind. Sobald man klingelt, schlagen Hunde so an, als hätten sie Übung darin, Besucher binnen Sekunden zu zerfleischen.Es dauert fast 20 Minuten, bis die Männer am Tor alles geprüft, die Hunde gebändigt haben. Maierowitsch bittet in den Wintergarten, er erweist sich als eleganter Melancholiker, der trotz der Hitze eine grüne Seidenkrawatte trägt und beim Dienstmädchen Kaffee, Limonade und Petits Fours bestellt.Maierowitsch hat so ziemlich alles gemacht, was mit Verbrechensbekämpfung zu tun hat. Er lehrte Strafrecht in São Paulo, bildete Richter und Staatsanwälte aus, beriet den Präsidenten, gründete ein eigenes Institut, benannt nach Giovanni Falcone, dem sizilianischen Staatsanwalt, der von der Mafia ermordet wurde. Jahrelang warnte er vor den neuen Mafia-Organisationen, die sich formierten, das "Comando Vermelho", das "Rote Kommando", oder die "Amigos dos Amigos" in Rio, und das PCC in São Paulo.Maierowitsch warnte vor dem Tag X, da die Mafia losschlagen würde. Er hatte Ideen für die Reform der Gefängnisse, der Exekutive, der sozialen Rolle des Staates.Wie viel wurde umgesetzt von Ihren Vorschlägen, Professor Maierowitsch?Ach, schrecklich wenig, sagt er.Melancholisches Lächeln.Dann lehnt er sich zurück und erzählt.Der Aufstand der Unterwelt brauchte einen Anlass, und den gab ein ehemaliger Hausmeister. Der Mann war im Parlament zuständig für die Lautsprecheranlage und schnitt im Frühjahr dieses Jahres eine Diskussion mit. Zwei ranghohe Polizisten erläuterten, wie man mit dem PCC verfahren würde. Nämlich die inhaftierten Gangsterbosse in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegen, nach Presidente Venceslau, knapp 600 Kilometer entfernt von São Paulo, an der Grenze zum Bundesstaat Mato Grosso do Sul.Der Hausmeister brannte zwei CDs und verscherbelte sie für 200 Reais, 70 Euro. Die mit Mobiltelefonen ausgestatteten PCC-Bosse konnten sich in ihren Zellen die Vorschläge in aller Ruhe anhören, in einer Telefonkonferenz. Den ganzen Plan. Er gefiel ihnen nicht.Sie gaben das Zeichen zum Angriff.Aufstände in 73 Gefängnissen, sagt Maierowitsch. Angriffe, teilweise mit Maschinenpistolen, Sprengsätzen und Handgranaten, auf Polizeireviere. In einer zweiten Welle wurden die städtischen Linienbusse abgefackelt, wahrscheinlich von den Betreibern illegaler Buslinien, die bei dieser Gelegenheit ihre Konkurrenz eindämmen wollten. Heckenschützen lauerten Polizisten auf, wenn die abends in ihr Apartment gehen wollten. Fünf Tage, an denen die Stadt brannte, in Blut versank. 800 bis 1000 Anschläge, 180 Tote. Eine Demonstration, sagt Maierowitsch.Das PCC, sagt er, zeigte, was es kann. Das "Primeiro Comando da Capital" war aus einer Fußballmannschaft entstanden. Im Gefängnis von Taubaté, 120 Kilometer von São Paulo, durften die Häftlinge im Hof kicken. Acht Gefängnisinsassen bildeten jeweils eine Mannschaft, und eines dieser Teams holte regelmäßig den Knast-Cup, weil niemand es wagte, gegen sie zu gewinnen. Sie waren die gefährlichsten, schlauesten acht Gangster Brasiliens, damals, vor 13 Jahren.Und wenn sie als Fußballmannschaft schon so erfolgreich waren, fanden sie, warum dann nicht als Mafia?Die Schätzungen über die derzeitige Mitgliederzahl schwanken. Maierowitsch geht davon aus, dass das PCC immer noch expandiert, er vermutet, dass 90 Prozent aller in den Stadtgefängnissen von São Paulo Inhaftierten organisiert sind - denn nur so könnten sie im Gefängnis überleben. Im ganzen Bundesstaat, inklusive der in Freiheit lebenden kleinen und mittleren Gauner wie Elvira de Souza, könnten es weit über 100.000 PCC-Mitglieder sein.Das PCC, so Maierowitsch, bewegt im Monat über eine Million Reais. Jeder Gefangene, der vor seiner Inhaftierung Geld beiseite geschafft hat, zahlt 150 Reais im Monat, rund 50 Euro. Freigänger zahlen 200 Reais, Entlassene müssen 300 Reais entrichten, außerdem ein Zehntel ihrer sonstigen Einnahmen. Dafür kauft man eine Art Schutzbrief - so wie beim ADAC.Sobald jemand ins Gefängnis eingeliefert wird, kommen PCC-Leute und unterbreiten einen Vorschlag. Gleichzeitig nehmen Außenarbeiter Kontakt mit den Angehörigen auf. Wenn der Inhaftierte beitritt, kümmern sie sich um die Familie, besorgen Ärzte, unterstützen die Frauen, regeln Racheangelegenheiten. Halbwegs sicher kann man seine Strafe absitzen; nur aussteigen kann man nicht mehr. Das Gangstertum spielt Sozialstaat, sagt Maierowitsch, schlau in einem Land, in dem Politiker grundsätzlich unter Unfähigkeits- und Korruptionsverdacht stehen. Schätzungsweise 20 Prozent der Bevölkerung São Paulos leben in einer Favela.Möglicherweise ersonnen, sicherlich aber perfektioniert hat dieses System der jetzige Boss des PCC, ein Mann namens Marcos Willians Herbas Camacho, alias "Marcola", der etwa 2002 die Macht übernahm.Marcola ist erst 38 und schon eine Legende, Idol für jene romantischen Projektionen, die im Elend blühen. Maierowitsch malt eine Pyramide: Oben ist Marcola, ihm arbeiten etwa 80 Führungsoffiziere zu, die wiederum, hier muss man schätzen, etwa 4000 "Sergeanten" befehligen. Darunter ist die breite Basis: Sympathisanten, die aus Angst oder Respekt ihren Anteil abliefern. Über Marcola kursieren Rap-Songs, er soll in seiner Zelle jeden Tag ein Buch lesen, Nietzsche, Gesetzesbücher, Schopenhauer, ein Genie, sagen die Favela-Leute, ein Ché Guevara der Mörder.Elvira de Souza hat ihn einmal gesehen, behauptet sie. Eitel sei er. Aber wunderschön. Er liebt die Armen, sagt sie.Wer im PCC aufsteigen will, bekommt zwei Paten, die verantwortlich sind, ihr Leben lang. Bei Elvira waren es die Favela-Bosse von Jabaquara. Elvira wurde getauft, man goss ihr ein Glas Schnaps über den Kopf, sie bekam eine mit vielen Schnörkeln handgeschriebene Beitrittsurkunde, einen 16-Punkte-Kodex, in dem viel von Ehre die Rede ist.Als Erstes wurde Elvira die Miete des Hauses erlassen. Als Nächstes schickte man sie in eine sechswöchige Ausbildung zur Krankenschwester - spezialisiert auf Schusswunden, sie musste einem Arzt bei Operationen assistieren und Fiebernde pflegen. Im Gegenzug bekam ihr Mann Fumega eine bessere Zelle: mit etwa 20 Mann statt über 30, er durfte nachts in einem der Betten schlafen statt auf dem Fußboden. Ihre Kinder bekamen Schulbücher.Der Bürgerkrieg, sagt Maierowitsch, war eine Demonstration, ein Signal an die anderen Gangsterorganisationen: Seht her, was wir vermögen, wie viel Geld, wie viele Leute wir aufstellen. Das PCC, sagt Maierowitsch, hat jetzt ein politisches Image, es ist eine Marke wie Mercedes oder al-Qaida. Angst und Treue, so wird eine Organisation zusammengehalten. Man müsse in die Köpfe und Herzen der Leute, das Image lautet: Uns gehört die Stadt.Das bedeutet für die Leute aus der Oberschicht wie de Nadai, dass sie sich nicht mehr wie früher bewegen können, auch nicht in der Innenstadt, die in ihrem Randbezirk "Crackolandia" genannt wurde, Crack-Land. Dasselbe gilt für seine Frau Sandra, selbst wenn sie nur ins Daslu zum Einkaufen fliegt, auch für de Nadais Söhne Fernando und Fabricio. Wenn sie nicht den Hubschrauber nehmen, benutzen sie zwei silbergraue, mit Panzerglas gesicherte S-500-Mercedes. Sie würden gern mal ohne Bodyguards unterwegs sein, aber ihr Vater verbietet es.1993 wurde seine jüngere Schwester Mariangela überfallen, tagsüber und auf offener Straße. Die Kidnapper wollten wahrscheinlich nur ein sequestro relâmpago durchführen, eine Blitzentführung: Man fährt mit dem Opfer zum nächsten Geldautomaten, lässt es alles abheben, gibt ihm oder ihr einen Tritt, Ende. Die Männer zwangen Mariangela in ein Auto, rasten los, an einer Kreuzung krachte das Auto der Gangster in einen Lieferwagen. Die Kidnapper konnten fliehen, sie ließen Mariangela mit gebrochener Halswirbelsäule zurück.De Nadais Schwester lag 14 Monate lang auf der Intensivstation des Albert-Einstein-Krankenhauses. De Nadai ließ Ärzte aus den USA einfliegen, heuerte Dutzende von Privatdetektiven an, vergebens. Seine Schwester starb, die Entführer blieben unentdeckt.Er hat daraus gelernt, sagt er.Die Gewalt wirkt wie eine Zentrifuge. Sie trennt die Gesellschaft. Mega-Städte wie São Paulo zerfallen in Schichten - sie bilden eine Unterwelt aus, die eine eigene Gesellschaft bildet, das System des Staates imitiert, darüber die schmale Stadt der Mittelschicht, die sich mit allen Kräften abschottet, darüber die Schicht der Reichen und der Mega-Reichen. Folgerichtig, dass die Millionäre in die nächsthöhere Ebene ausweichen, in den Hubschrauber steigen.Gegenüber vom Daslu, auf dem Westufer des Rio Pinheiros, im Stadtteil Cidade Jardim, der Gartenstadt, gab es früher einen kleinen Berg. Jetzt ist dort ein Loch. Und in diesem gewaltigen Loch krabbeln Heerscharen gelbbehelmter Bauarbeiter herum und lassen von Tagesanbruch bis zum späten Abend tonnenweise Beton und Armierung darin verschwinden. Nach dem Willen der Investoren werden es umgerechnet 640 Millionen Euro sein, die hier versenkt sein werden. Die teuerste Immobilienentwicklung Brasiliens soll es sein, eine Trutzburg der Oberschicht.In Cidade Jardim entsteht ein neues São Paulo, ein São Paulo der vierten Dimension, das jede Berührung mit dem Rest der Stadt erspart: ein Wohn-, Einkaufs- und Arbeitskomplex auf 135.000 Quadratmetern, mit neun Wohn- und Bürotürmen, umgeben von Palmen und Parks, ausgestattet mit Einkaufsmalls, acht Kinos und dem größten Sportcenter Südamerikas. Nur mit einem Jahreseinkommen ab 150.000 Euro darf man eine der Wohnungen kaufen, die kleinste misst 240, die größte 780 Quadratmeter. Das Areal ist der Versuch, der Allmacht des PCC zu entkommen, jede Begegnung mit den Elvira de Souzas von vornherein zu vermeiden.Elvira hat von dem Projekt noch nichts gehört; aber sie würde es wahrscheinlich als Erfolg verbuchen - die Reichen haben Angst, gut so, sollen sie. Sie hat inzwischen ihren Schwiegersohn David gebeten, ihr eine neue und handliche Waffe zu besorgen. Sie selbst wird bei den Bossen der Favela durchblicken lassen, was sie vorhat. Sie wird erklären, dass sie ein Recht auf ihre Rache habe. David bringt ihr eines Abends einen Indumil-Revolver Modell "Cassidy" mit langem Lauf.Meint sie es wirklich ernst?Doch noch am selben Abend muss Elvira de Souza erkennen, dass sie die PCC unterschätzt hat. Die zwei Bosse, die die Favela regieren, ihre Paten und damit ihre Vorgesetzten, statten ihr einen Besuch ab.Die beiden Männer, wird Elvira später erzählen, blieben nicht lange, wurden nicht laut, waren freundlich. Doch nebenbei erklärten sie ihr, sie wünschten keine Alleingänge und im Viertel keine Unruhe.Elvira de Souza verstand. Dies ist die neue Zeit. Sie wird also ihren Nachbarn nicht töten. Aber vielleicht später, der Krieg ist nicht zu Ende.

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